Freigeist

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Die Stube

Hier gibt es fast alles zu trinken, was das Herz begehrt. Zu essen gibt es nichts. Zu reden gibt es viel.

Wer im Freigeist einkehrt, möchte in der Regel nicht nur trinken, sondern auch diskutieren – meinungsstark, lautstark, ausdrucksstark. Es ist nicht entscheidend, was diskutiert wird und wie man dazu denkt.

Du hast eine Meinung, die nicht unbedingt Mehrheitsmeinung ist und möchte sie mit Gleichgesinnten durchrühren? Hier bist du richtig.

Du hast eine Meinung, die nicht unbedingt Mehrheitsmeinung ist und möchte sie gegen Andersdenkende vertreten, schließlich hast Du die besseren Argumente? Hier bist du richtig.

Du hast mit einem Nachbarn einem Streit und möchtest eine letzte Gelegenheit nutzen, diesen über einigen Krügen auszuräumen, bevor einer von Euch zum Heliosgeweihten rennt oder es zu Übergriffen kommt? Hier bist du richtig.

Die Wirtin Marga lässt fast alles gelten, mit ganz wenigen Ausnahmen wie Gewalt gegen Kinder oder Raubmord. Hinter dem Tresen stehend, zapft sie und beobachtet das Geschehen, während die Familie die Getränke serviert.

Wenn sie den Eindruck hat, dass an einem Tisch nicht mehr auf Argumente gehört wird, sondern nur noch Überzahl oder Lautstärke gelten, schickt sie Ehemann, Sohn oder Tochter, um in der Regel für die benachteiligte Seite mit zu diskutieren und weitere Argumente ins Feld zu führen. Das hat schon manche Diskussion in eine neue Richtung gebracht oder anderweitig wieder interessant gemacht. Von Seiten der Wirtsfamilie wird allerdings nie endgültig Partei ergriffen und schon gar nicht Schiedsrichter gespielt.

Wenn Ihr Euch am Ende aber nur darauf einigen könnt, dass eine Einigung unmöglich ist, servieren Euch Marga oder ihr Mann die Feindschaftskrüge, gefüllt mit einem Getränk, das ihnen passend erscheint. Damit könnt Ihr dann brummelig auf Euer Zerwürfnis anstoßen, statt aufeinander einzuprügeln oder euch an den Haaren zu ziehen. Gewalt mag eine Lösung sein, aber nicht in der Stube.

Zwischen neun und zehn Uhr abends verschwindet die Wirtin und ihr Ehemann nimmt den Posten hinter dem Tresen ein.

Die andere Stube

Es gibt einen Hinterhof, der auf einem ganz anderen Weg über zwei geschlossene, aber nicht abgeschlossene Tore zu erreichen ist. Zufällig kommt hierher niemand. Wer zu späterer Stunde an die niedrige Pforte in der Mauer klopft, dem öffnet die Wirtin Marga. Eingelassen wird allerdings nur, wer schon Stammgast in der Stube ist und wen sie außerdem aus persönlichen Gesprächen als geeignet befindet.

Hier geschieht eigentlich das Gleiche wie in der Stube. Es gelten auch die gleichen Regeln, nur kann man sich noch freier unterhalten. Vorne weiß man am Ende doch nicht, wer vielleicht alles mithört. Hier weiß man es und wenn man es nicht weiß, weiß es Marga.

Hier treffen sich Unzufriedene, die Meinungen vertreten, die sozial derzeit als fragwürdig gelten oder nicht erwünscht sind.

Hier treffen sich Zufriedene, die ihre Gedanken gerne schweifen lassen und nicht überlegen möchten, wohin sie das trägt.

Außerdem treffen sich hier auf neutralen Grund Leute, die öffentlich niemals miteinander sprechen würden und sich nicht in den Einflussbereich des Anderen begeben wollen, die aber etwas miteinander zu besprechen haben.

Ob die besprochenen Themen der heligonischen Halsgerichtsordnung zuwiderlaufen oder religiöse Regularien verletzen, ist völlig irrelevant. Marga entscheidet einzig und allein selbst, ob in eine Diskussion eingegriffen werden muss. Dies ist allerdings höchst selten der Fall.

Du denkst, Alt-Jolbenstein müsste man nach der Teilung vor einem Vierteljahrhundert endlich wiedervereinigen? Du meinst, der nutzlose, dünkelhafte Adel sollte dringend abgeschafft werden, die Hochlandvögte waren nur der Anfang? Hier darfst Du das argumentativ ausbreiten.

Du findest, die Saarkani von Mahanel machen sich viel zu mausig, mischen sich in Dinge ein, die sie nichts angehen und müssten einmal zurecht gestutzt werden? Oder St. Aluin sollte schon morgen geschleift werden, der Abt am besten gleich mit? Hier kannst Du mit Gleichgesinnten Szenarien durchspielen oder Andersgesinnten mit Deinen Argumenten die Stirn einrammen.

Du möchtest oder musst etwas bereden, aber weder Dein Umfeld noch das Deines Gegenübers sollen von diesem Gespräch erfahren? Marga setzt Euch in eine der Nischen und ihr habt einen ganzen Abend Zeit.

Manchmal tragen selbst hier Gäste das Gesicht mit einem Tuch oder einer Maske verhüllt. Nur Marga und eventuell die Gesprächspartner wissen dann, um wen es sich handelt.

Das klingt wie ein Risikofaktor für die andere Stube, ist aber das genaue Gegenteil. Meist handelt es sich um sehr hochgestellte, wohlhabende und / oder einflussreiche Leute, die ein großen Interesse daran haben, dass hier alles genau so weiterläuft wie bisher. Diese Leute haben auch die Möglichkeiten, Plaudertaschen zu überzeugen, dass sie in Zukunft nicht mehr plaudern – mit welchen Mitteln auch immer.

Ob solche Methoden jemals zur Anwendung kamen, weiß niemand oder wenn es jemand weiß, dann wird dieses Wissen nicht geteilt. Margas Ziel ist jedenfalls, dass allein der Gedanke daran dafür sorgt, dass die vertrauenswürdigen Gäste, die sich hier einfinden, auch vertrauenswürdig bleiben.

Falls Du es geschafft hast, hierher zu gelangen: Willkommen!

Und: Was in der anderen Stube besprochen wird, bleibt auch hier.



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