Der Widdermann
An den äußersten nördlichen Rändern des Älvkildelandes gibt es einen Wald, der keinen Namen trägt. Er hieß einmal der Eyvindurwald. Doch Eyvindur ist ein Name, den niemand mehr nennen möchte, auch wenn ihn jeder kennt. Eyvindur baute an diesem Wald, der zu dieser Zeit noch keinen Namen trug, einen kleinen Hof. Was der karge Boden im kurzen Sommer nicht hergeben konnte, bestritt er durch Fallen stellen und Jagd. Bald wurde sein Hof größer und ansehnlicher und es lebten mehr als ein Dutzend Menschen dort. Sie vertrugen sich mit dem Druntvolk, welches selten bei ihnen war. Meist blieben sie nur kurz auf dem Eyvindurgård und gingen schnell wieder. Es waren die Wachleute des Druntvolkes. Sie halfen den Menschen auf dem Eyvindurgård mit Ratschlägen und Warnungen und die Menschen vergolten es ihnen mit Geschenken, was Kammer und Feld hergaben. Vor allem wichtig für die Menschen waren die Warnungen vor dem Drobvolk. Der Eyvindurgård lag nahe den Ausläufern des Bereichs des Drobvolkes. Man hatte Eyvindur vor dem Drobvolk gewarnt und ihm den Rat gegeben dort keinen Hof zu bauen. Doch er lachte nur und meinte: „Sollte einer des Drobvolkes kommen, so werde er ihm schon das Fell abziehen und ihm als Trophäe über dem Kamin dienen.“
Und tatsächlich fand Eyvindur eines kalten Wintermorgens in einer seiner Bärenfallen einen Menschen. Eigentlich waren die Bäume um die Bärenfalle mit Farbe markiert, so dass ein Mensch nicht aus Versehen in die Falle trat. Doch dieser hatte wohl im nächtlichen Schneegestöber die Warnungen übersehen. So lag er tot am Boden, halb von Schnee zugedeckt. Eyvindur machte sich an die schaurige Arbeit den steif gefrorenen Körper aus dem Schnee auszugraben. Der Oberkörper war mit Lederlappen umwickelt, die darunter mit Fell und Wolle ausgestopft waren. Doch wie erschrak Eyvindur, als er entdeckte, dass die Beine des Menschen dicht behaart waren und krummbeinig, eher wie die Beine eines Geißbocks oder Pferdes, als die eines Menschen! Ihm wurde klar, dass er hier einen des Drobvolkes vor sich hatte und sollte es je auf ihn zurückfallen, dass einer der ihren durch ihn umgekommen ist, so würde es ihm schlecht ergehen. In einiger Entfernung hob Eyvindur eine Grube aus. Doch war der Boden gefroren und er konnte nicht tief in die Erde gelangen. Also begrub er den Toten mehr schlecht als recht und türmte Steine über ihm auf. Die Bärenfalle entfernte er und kehrte über einen großen Umweg zu seinem Hof zurück. In diesen Teil des Waldes wollte er diesen Winter nicht mehr gehen.
Als der Schnee zu schmelzen begann und hier und da schon die ersten braunen Flecken in der weißen Schneedecke zu sehen waren, hatte Eyvindur den Vorfall, dass ein Mann des Drobvolkes durch seine Bärenfalle umgekommen war, schon vergessen. Als eines Nachmittags zwei Männer des Drobvolkes auf dem Eyvindurgård auftauchten, waren die Knechte und Mägde so verängstigt, dass sie zunächst schrieen und dann mit vereinten Kräften auf die Beiden des Drobvolkes losgingen. Als diese die rasende Meute auf sich zulaufen sahen, zückte einer der Bocksbeinigen, der große Hörner auf dem Kopf trug einen hölzernen Gegenstand. Als die ersten noch überblasenen Töne sich zu einer Melodie formten, blieben die Menschen stehen. Sie ließen ihre stumpfen Dreschflegel und spitzen Mistgabeln fallen und begannen zu tanzen. Eyvindur, der selbst ein sehr musikalischer Mensch war und die Harfe perfekt beherrschte kam aus dem Haus gestürmt. Er fühlte plötzlich wieder die Schuld des Winters auf seinen Schultern. Der Bocksbeinige mit den Widderhörner trat auf Eyvindur zu. Er nahm die Flöte vom Mund, doch die Knechte und Mägde tanzten weiter.
„Wir suchen einen der unsrigen. Hast du ihn gesehen Menschenkind?“
Eyvindur schüttelte den Kopf.
„Wir haben Grund zu der Annahme, dass er durch einen der eurigen ums Leben kam. Wisst ihr etwas darüber?“
Wieder schüttelte Eyvindur den Kopf und er spürte wie es ihm ob der Lüge heiß und kalt wurde.
„Wir mögen es nicht, wenn das Menschenkind lügt. Also sprich die Wahrheit und sei verschont. Weißt du etwas über unseren Toten?“
Zum dritten Mal schüttelte Eyvindur den Kopf.
Da schüttelte der Mann vom Drobvolk seine Widderhörner und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Durch seine Nüstern floss heißer Atem und er presste das Wort „Lügner!“ zwischen seinen Zähnen hervor. Er begann eine wilde und ekstatische Musik zu spielen und Eyvindur verlor die Kontrolle über seine Füße. Ungezähmt riss es ihn hin und her und die wilden Drehungen machten den Schwindler schwindlig. Bald verlor er die Kontrolle über seinen Körper und dann über seine Gedanken. Als alles in seinem Kopf wirr schien stellte der Bocksbeinige wieder seine Fragen an Eyvindur. Diesmal entlockte er ihm alles. Wie er den Toten in seiner Bärenfalle gefunden hatte und wie er ihn beerdigt hatte. Keine Lüge blieb verborgen.
Schlagartig beendete der Bockbeinige die Musik. Alle lagen wie benommen auf der Erde. Mit klarer Stimme verkündete er: „Zur Strafe und zur Wiedergutmachung für unseren Getöteten, verlangen wir alle Menschenkinder, die bis zum nächsten Frühjahr geboren werden. Wir kommen nach dem nächsten Winter wieder und werden alle Neugeborenen mitnehmen.“ Da machten die beiden des Drobvolkes kehrt und verschwanden wieder. Das kommende Jahr war für den Eyvindurgård der Anfang vom Ende. Als eine der Mägde schwanger war, ging sie in der Nacht mit ihrer besten Freundin und zwei Knechten heimlich fort. Neue Knechte und Mägde mochten nicht lange auf dem Hof bleiben. Sobald sie von dem Fluch des Drobvolkes hörten, gingen auch sie wieder. Und alle die gingen, erzählten den Fluch weiter, so dass bald niemand mehr auf den Hof kam. Eyvindurgård verfiel. Jedes Frühjahr kamen Männer des Drobvolkes und wiederholten ihre Forderung. Und jedes Mal gingen sie mit leeren Händen. Zuletzt blieb Eyvindur allein auf seinem Hof. Einem Hof vor dem er gewarnt worden war, ihn dort zu bauen. Als der damalige Wanderjarl auf den Eyvindurgård kam, fand er ihn verlassen vor. Er hinterließ eine Nachricht, falls Eyvindur auf der Jagd sei und deshalb nicht zu Hause war. Auch im nächsten Jahr suchte er den Hof wieder auf, aber fand er seine Nachricht unangetastet auf dem Küchentisch vor. Als er zwei weitere Male niemanden und seine Nachricht immer noch dalag, wurde Eyvindur für tot erklärt und der Eyvindurwald hatte wieder keinen Namen. Und er würde so lange keinen Namen haben, bis ihn wieder jemand in Besitz nehmen würde. Doch so lange es das Drobvolk gibt, wird das nicht mehr passieren. Was aus Eyvindur geworden ist weiß niemand. Wahrscheinlich hat ihn der Bockbeinige mit den Widderhörnern mitgenommen, nachdem seine Forderung nicht erfüllt wurde.