Die Scherbenmann-Legende
Ruhe. Ruhe ist ein Wort, das Betis nicht kennt. Ständiges Kommen und Gehen lässt die Stadt leise aber beständig flüstern. Selbst das ruhige Verweilen in dieser Perle heligonischer Kultur, wie sie gerne genannt wird, hat wenig von Besonnenheit und Stille. An jenem Abend aber, als ich das schrecklichste erleben musste, was mein Leben in der Vergangenheit, nicht aber in der Zukunft angetan hat, ging ich durch die Straßen nach Hause, zurück zur Wärme meines bescheidenen Heims. Ein langer Tag lag damals hinter mir und wohlige Müdigkeit hatte längst begonnen, meinen Geist zu umhüllen. Doch dann drängte sich ein vages Gefühl der Unsicherheit hervor und umklammerte mich von innen heraus, wie eine Spinne die unvorsichtige Fliege. Ich sah mich um, doch da war weder ein Gauner, der es auf meine Groschen abgesehen hatte, noch ein lauernder Hund, der jedem Unvorsichtigen an die Kehle springen würde.
Ich blieb stehen und horchte, als hoffte ich, jenes Gefühl in der Dunkelheit erlauschen zu können. Und dann hörte ich es: nichts. Ich wurde gewahr, dass da nichts war, kein Klappern von Krügen, kein streitendes Schreien, keine betörenden Balladen, nicht einmal ein hauchender Wind. Die Straße, die mir wohlbekannt war und nunmehr doch so fremd erschien, war leer und ruhig. Nur ein schwaches Glimmen drang aus einem Fenster und beleuchtete meinen Weg nur spärlich. Dann vernahm ich ein Stöhnen und gurgelndes Ächzen, so als stoße eine menschliche Stimme in tierischer Kehle ein paar letzte Worte aus, bevor es zu Ende geht. „Geh schnell weiter, bleib nicht stehen...“ war dann zu vernehmen. Ich erstarrte, traute mich nicht, zu antworten oder wegzurennen. „... bleib nicht stehen...“ Dann sah ich an eine Hauswand in der Dunkelheit gelehnt, eine menschliche Gestalt. Ich neigte meinen Kopf, um besser sehen zu können, und in der Tat konnte ich dann einen Mann in verschlissener Kleidung ausmachen. Weiß-graue Haare krönten wirr seinen Kopf und umrahmten ein schmerz-verzerrtes Gesicht. Er hielt sich ein Bein, das offenbar gebrochen oder verstaucht sein musste, wie ich sah, als er auf mich zu hinkte. „Geh schnell weiter, sonst erwischt er nicht nur mich!“ „Guter Mann! Was ist mit Euch, mit Eurem Bein? Braucht Ihr Hilfe?“ fragt ich ehrlich besorgt. Er schüttelte nur den Kopf. „Geh weg, sonst hilft uns beiden nichts mehr, nicht einmal die Götter!“ „Nicht einmal die Götter? Was redet Ihr denn da? Ihr braucht Hilfe, das ist sicher! Und auch hier in Betis – gerade hier in Betis, seid ihr nicht verloren!“ „Nicht verloren? Unwissender Narr! Aber gut, dann sieh zu was für einen Lohn Du zu erwarten hast!“ Ich ignorierte seine Worte und mein Unbehagen und griff ihm unter die Arme, stützte seinen Gang und geleitete ihn zu meinem nahen Heim. Dort setzte ich ihn auf einen Stuhl und wollte nach seinem Bein sehen, als er mich zurück hielt. „Lass! Es lohnt nicht mehr. Es ist vorbei, meine Flucht hat hier und in dieser Nacht ein Ende. Ich kann nicht mehr davonlaufen, als ob ich das je gekonnt hätte.“ Er blickte hoch zu mir und starrte mich lange an, aus Augen die nicht so alt waren, wie sein ergrautes Haar und sein fahles Gesicht mich hätten raten lassen, nicht alt, aber doch zerbrochen von einem grauenhafte Anblick.
„Von was lauft Ihr denn davon? Ihr werdet doch kein Gauner sein?“ „Ein Gauner? Keiner der Gesellen hat getan, was ich getan habe.“ Er kramte in einem Beutel herum, den er am Gürtel festgebunden hatte, und holte eine Hand voll rötlich glänzender Scherben hervor, von denen er mir eine in die Hand gab. „Polydian. Schön, nicht wahr?“ flüsterte der Mann. Ich musterte die Scherbe und konnte an einer Seite geschliffene Formen im Zwielicht des Zimmers eher ertasten als sehen. „Zersprungen ist er, in tausend Scherben. Man hätte sie zerschlagen sollen, in Scherben von Scherben, bis nur noch Staub übrig gewesen wäre!“ „Zersprungen? In Scherben? Wie kann das sein?“ Der Mann schwieg einen Moment, als hadere er mit sich selbst ob er nun erzählen wollte, oder nicht. „Diese Scherbe stammt von ihm, von seinem Körper, seinem Geist, seiner Seele, wenn er so etwas hat. Ein gewaltiger Hieb hat die Scherben aus ihm gehauen und sie weit verteilt, und weil sie uns als Polydian erscheinen, wurden sie so schnell verkauft, wie sie gefunden wurden. Es ist gut für das Seelenheil der unglücklichen Käufer, dass sie nicht wissen, welchen Preis sie tatsächlich zahlen.“ „Aber wer ist er denn?“ fragte ich ungeduldig. „Niemand weiß, wer er ist und woher er kommt. Er ist alt, alt wie Heligonia selbst und treibt sein Unwesen wohl schon lange, stets auf der Suche nach seinen Scherben. Ungesehen zieht er durchs Land und spürt ihnen nach, folgt ihnen unablässig und nichts, aber auch gar nichts kann ihn von seinem Ziel abbringen. Das einzige, was bleibt ist Flucht, ewige, unablässige Flucht.“ Er hielt inne und ich blickte zur Seite, meinte kurz zwischen zwei Lidschlägen etwas in der Ecke gesehen zu haben. Doch da war nichts. In jenem Moment dachte ich noch, nur die Geschichte würde mich beunruhigen. Mit zittriger Stimme fuhr er fort, sprach dabei etwas schneller: „Seinem Opfer spürte er dann nach, folgt ihm unablässig, bis er es in eine Ecke gedrängt hat, aus der es nicht entkommen kann oder es aufgibt... Meist geschieht letzteres zuerst. Meist... aber nicht immer.“
Er rieb sich das Bein und schaute nachdenklich an mir vorbei. „Dann, in einem Augenblick, in dem ihm sein Opfer sicher ist, lässt er sich Zeit, Zeit um das zu spüren, geradezu auf der Zunge zu schmecken, was dann kommt. Er stürzt sich auf sein Opfer, das ihn dann meist zum ersten Mal deutlich sieht, mit all den Wunden und Narben, aus denen wohl die Scherben stammen? Doch viel schlimmer sind seine Zähne. Nicht weil sie besonders spitz, blutverschmiert oder verunstaltet wären, sondern weil man dann weiß, dass sie sich sogleich ins Fleisch bohren werden.“ Seine Augen weiteten sich, er blickte an mir vorbei in die Dunkelheit, meine Augen folgten seinen, ... aber da war nichts. „Ihr könnt ihn so nicht sehen. Ihr müsst die Augen schließen. Dort in jener Dunkelheit, die Euch stets begleitet, die immer auf Euch wartet, wenn die Lider die Augen verschließen, dort wartet und wandelt er, spricht die Worte, die Ihr besser meidet, so Ihr ihn nicht locken wollt. ‚Verborgen vor den Augen der Blinden, könnten mich sehend doch nicht finden.’ Blickt ihr zu ihm hin, ist er nicht zu sehen, schließt ihr die Augen vor dem Grauen, seht ihr es deutlich. In jener Dunkelheit hört ihr ihn atmen, spürt seine Kälte, schmeckt seinen Schweiß, bevor er, wie ihm einst selbst Scherben aus der Seite, Euch einen Brocken Fleisch aus dem Körper reißt. Dann vielleicht ein Zeh, ein Batzen Oberschenkel, gelegentlich ein Finger, den Nagel abgerissen, die ganze Hand, das Herz, den Magen, mit Glück als erstes die Kehle, so dass ein schneller Tod das Grauen nicht erleben lässt, ... doch meist frisst er vorher ein Auge oder verschlingt ein Ohr. ...“ Er hielt inne. „Was ist?“ fragte ich noch dumm. „Nichts.“ Dann war nur noch ein leises Wimmern von ihm zu hören.
Wird so die Welt eines fernen Tages enden? Nicht mit lautem Getöse, sondern mit einem leisen Winseln?
Dann sah ich ihn - mit geschlossenen Augen - und er tat, von was erzählt wird. Ich aber rannte, so schnell mich meine Beine trugen. Noch heute renne ich, versuche nicht zu blinzeln oder gar die Augen zu schließen, aber es will mir seltener und seltener gelingen. So ist es wohl bald an mir, die Worte zu wiederholen: Verborgen vor den Augen der Blinden, könnten mich sehend doch nicht finden. Dass die Bestie ein verfluchtes Zauberwesen ist, ist der einzige Trost, der bleibt.