Die Geschichte des roten Dschinnen
Rukaija war weithin bekannt als eine weise und wissende Zauberin, die über große Macht verfügte. Man sagt, sie verfügte über das Wissen, den Stein der Weisen zu bereiten, das flüssige Aurazith der Philosophen und allerlei Wundermittel und Elixire herzustellen. Mechanische Vögel würden in ihrem Palast umher fliegen und steinerne Krieger hielten dort Wache solange sie auf Reisen war, und jenes war sie oft! Sie reiste durch alle Lande, die auf einer Karte verzeichnet waren und auch durch solche, die keinem Menschen bekannt sind. Doch nicht nur klug war sie, sie verfügte über kostbare Schätze und erfreute mit ihrem Äußeren jeden, dem sie begegnete. So verwundert es auch nicht, dass sie regelmäßig, oft auch mehrmals am Tag, von Verehrern aufgesucht wurde, die sie zur Frau nehmen wollten. Doch so wunderbar sie war, so überdrüssig war sie dieser Versuche. Sie lies also verbreiten, dass nur der sie zur Frau nehmen durfte, der ihre Rätsel zu lösen vermochte. Jene aber, die scheiterten, würde sie in allerlei Getier verwandeln. Als Abschreckung gedacht, bewirkten die Worte aber fast schon das Gegenteil. Viele der tapferen Recken nahmen dies als Herausforderung und scheuten die drohende Strafe nicht. Aber nicht ein einziger war unter ihnen, der die Rätsel lösen konnte, so dass Rukaija auf ihren Reisen nunmehr von allerlei Wesen begleitet wurde, Verehrern, die sich selbst in dieser Form nicht von ihr abwenden konnten.
Ein junger Edelmann namens Siddiq hörte nun ebenfalls von Rukaija und ihren Rätseln. Zwar war er einer, der das Junggesellenleben reichlich genoss, aber was er da hörte lockte ihn wie mit süßem Honig übergossene Feigen die Fliegen. Er wandte sich also an seinen Freund Abdulwahid, der ihn schon bei manchem Streich und zahlreichen kühnen Taten begleitet hatte. „Adulwahid, mein Freund! Höre, was mir in den Sinn gekommen ist!“ Er musste ihm nicht lange von der Zauberin Rukaija erzählen, wohl war Adulwahid schon von ihr erzählt worden. „Ich will ihr zeigen, welch Wesen ein Mann ist! Ich will mich wohl vorbereiten und ihr die Rätsel lösen! Dann aber, wenn sie zu ihrem Wort stehen muss, dann will ich sie zurückweisen und ihren Hochmut strafen!“ Abdulwahid hörte diesen Plan nicht ohne Sorge, doch wußte er, dass Siddiq von einem einmal gefassten Vorhaben nicht abzubringen war. Und in der Tat schritt Siddiq sogleich zu den Vorbereitungen. Er wandte sich an die Weisen seiner Heimat, studierte Bücher und Schriftrollen, lies sich unterweisen in Musik, Malerei, Mathematik, Dichtung, Dramatik, Geographie, Geschichte, Architektur und Zauberei, sowie einiger Wissenschaften, deren Namen geheim sind und verschwiegen werden müssen. Als ihm in seiner Heimat nichts mehr beigebracht werden konnte, reiste er in fremde Länder, zu einsamen Gipfeln, tiefsten Sümpfen, dunklen Wäldern, weiten Ebenenn und auch zu einer Teestube. So vorbereitet begab er sich mit seinem treuen Freund auf die Suche nach Rukaija, was leichter getan als gesagt war. Die Zauberin hatte ihr Lager auf einem Hügel nahe eines grünen Waldes aufgeschlagen. Rings umringt waren ihre Zelte von allerlei Getier und Wesenheiten, zweifelsohne Opfer der eigenen sehnsüchtigen Tollheit. Siddiq trat also an die Zelte heran, sein Herz durchaus pochend vor Aufregung und Erwartung. „Herrin Rukaija, Zauberin und Verwandlerin, die du so manchen Mann um Sinn und Leib gebracht hast, tritt heraus und stell mir deine Rätsel!“ Siddiq war sich seines Planes sicher... bis Rukaija leibhaftig vor ihm stand. Für einen Moment blieb ihm das pochende Herz stehen, konnte er keinen Laut mehr von sich geben, geschweige denn sich auch nur rühren. Rukaija war ganz in rot gekleidet und blickte ihn aus dunklen Augen an. Aus dem Blick drangen Weisheit aber auch Bestimmtheit, die in Siddiq – nachdem er wieder zu sich gefunden hatte – nicht Verwirrung, sondern Klarheit bewirkten. Die Zauberin war jedoch sichtlich überrascht, denn auch sie erkannte in Siddiq Bedeutung, wo sie sonst nur Unbedeutendes fand. So blickten sie sich an, liesen eine Zeit vergehen. Dann aber fand Rukija ihre Absicht wieder und sprach: „Dann will ich Euch also die Rätsel stellen! Ihr wisst, was Euch erwartet, wenn ihr fehlt?“ „Das und auch was Euch erwartet, wenn ich Euch die Rätsel löse!“
Statt einen Rätselspruch zu sagen, begab sich Rukaija wieder in ihr Zelt und nahm in aller Ruhe ihr Ohrgehänge ab, brach aus dem Schmuck zwei gleichartige Perlen und lies sie durch einen Diener Siddiq überbringen. Dieser nahm die Perlchen, verlangte dann eine Waage von Adulwahid, der eine solche aus seinem Gepäck zog und wog die Schmuckstücke. Dann legte er zu den zweien drei weitere von genau demselben Gewicht und lies alle der Zauberin geben. Diese wog sie ihrerseits wieder, zermalmte sie dann mit einem Stein zu Staub und vermengte das Mehl mit einer Handvoll Streuzucker. Die Mischung wurde wiederum Siddiq gegeben. Der Edelmann erkannte den Sinn, bat um einen Becher Milch, den er, nachdem er das Pulver hineingeworfen hatte, Rukaija zurücksandte. Die Zauberin trank die Milch mit dem Zucker aus, wog dann den Perlenstaub, der zurückgeblieben war und fand ihn nicht schwerer oder leichter als zuvor. Rukaija zog einen Ring aus, den sie dem Verehrer schickte. Siddiq empfing ihn, beschaute ihn und steckte ihn dann an den eigenen Finger. Danach schickte er eine wundervolle Perle, glänzend, wie die Sonne im Meer. Rukaija legte sie auf ihre Handfläche, riß dann ihre Halskette entzwei und fand eine einzige Perle, die jener ersten an Größe und Farbe aufs genaueste glich. Sie band die beiden zusammen und schickte sie zurück an Siddiq. Er nahm beide und betrachtete sie, welche gehörte nun wem? Wie er sich auch anstrengte, er konnte die rechte Anwort nicht geben. Auch eine dritte fand er nicht, so dass er Adulwahid um eine blaue Glasmurmel bat. Die knüpfte er an die herrlichen Schmuckstücke und ließ sie der Zauberin überreichen. Als diese die Murmel sah, küsste sie sie und band es sich dann mit einem Lächeln ans Handgelenk, die beiden Perlen hingegen an die Ohren.
Rukaija trat aus dem Zelt, die Rätsel waren gelöst und nunmehr musste sie zu ihrem Wort stehen. Abdulwahid, der alles beobachtet hatte, wartete gespannt darauf, dass Siddiq sie nun verschmähte und ihr so ihre verdiente Strafe zukommen lies. Doch Siddiq tat nichts dergleichen. Als die Dame sich vor Siddiq verbeugte und leise flüsterte „Ich bin dein“, tat Siddiq es ihr nach. „Ich bin dein“ sprach auch er.
Die Hochzeit der beiden war ein Fest, das in seinem Zauber nicht seinesgleichen kennt. Es wurde gegessen und getanzt, gesungen und getrunken. In einem ruhigeren Moment aber nahm Abdulwahid Siddiq zur Seite. „Sprich nun, Freund! Wohl habe ich gesehen, wie du die Rätsel löstest, verstanden habe ich’s aber nicht!“ Siddiq lächelte und sprach: „Dann will ich es dir gern erklären! Als Rukaija mir zu Beginn die zwei Perlchen geben lies, sagte sie mir damit ‚Ein Menschenleben ist kurz wie zwei Tage; nütze die Zeit!’ Indem ich nun drei weitere Perlen hinzufügte, gab ich ihr zur Antwort: ‚Ob es auch fünf Tage dauert, so vergeht es doch ebenso schnell.’ Das Vermischen des Perlenstaubs mit dem Zucker brachte mir die Botschaft: ‚Wer besässe schon den Stein der Weisen, um in diesem von Leidenschaft befleckten Leben das Unvergängliche vom Nichtigen zu scheiden?’ Worauf ich also die Milch auf das Gemisch goß und so entgegnete: ‚Ein Tropfen Milch schon genügt, um vom Perlenstaub den Zucker zu trennen!’ Sie trank sodann die Milch zum Zeichen, dass sie sich meiner Weisheit gegenüber als Säugling fühle, und gab mir durch Übersendung des Ringes ihre Einwilligung zur Heirat kund. Darauf schickte ich ihr jene Perle, was bedeutete: ‚Ebensowenig wie ein zweites solches findest Du für mich eine ebenbürtige Partnerin!’ Doch sie fand in ihrem Schmuck die Zwillingsperle, band die beiden zusammen, was hieß: ‚Ich bin diese Partnerin!’ Ich musste das also zugeben, denn es gibt kein drittes derartiges Schmuckstück auf der Welt – und so fügte ich dem Perlenpaar jene blaue Glasmurmel hinzu, die ein Schutz ist gegen den bösen Blick und ein Liebessiegel auf unserer Verbindung.“