Kalverams Entdeckung

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Ein abenteuerlicher Reisebericht, vorgetragen zur Herrscherbegegnung am 26. Saarka II, 45 n.A. III, niedergeschrieben ebenda von Lupert Pfannenblei, Arnacher Ingenieurscorps, veröffentlicht im Trommler, dem freien Nachrichtenblatt der Markgrafschaft Norrland-Brassach, erschienen im 81. Heligonischen Boten im Auftrag von Gilbert von Dachsrode, Anführer der Suchexpedition.


Markgraf Kalveram unversehrt in südnuremburger Kerker gefunden!

(Artikel)

Bericht der Suchexpedition

Das Absonderlichste, was wir alle jemals erlebt haben ist es sicherlich, die ganze Zeit so getan zu haben als wären wir jemand anders - mit anderem Namen und anderer Herkunft. Aber ich will nicht vorgreifen.

Wir sollten Markgraf Kalveram suchen. Er war, von höchster Stelle autorisiert als Gesandter von König und Primus, im ersten Poëna 40 n.A. III nach Südnuremburg geschickt worden, um über das verzweifelte Hilfegesuch des verbliebenen Nuremburger Adels zu unterhandeln, das König und Primus kurz zuvor erhalten hatten.

Vorbereitungen und Anreise

Man wußte nicht, was uns erwarten würde. Baron Hagen von Grauburg, der ein Jahr nach der Entsendung des Markgrafen mit der Durchführung einer Suchexpedition beauftragt wurde, blieb genauso spurlos verschwunden. Weil bekannt war, dass sich im Nordwesten gelegentlich Handelsreisende auf den Weg ins südliche Nuremburg machen, veranlasste der König die Aufstellung einer kleinen, als Händlergruppe getarnten Spionagegruppe. An den Planungen und Vorbereitungen waren nur drei Personen beteiligt: Baron Gilbert von Dachsrode, Baron Jareck von Jolberg und Baron Richard von Arnach.

Im späten Saarka des Jahres 43 n.A. III, einen Monat vor unserem Aufbruch, trafen wir uns auf Burg Arnach. Gilbert von Dachsrode und ich waren schon informiert, alle anderen erfuhren erst jetzt, dass sie in nächster Zeit nach Nuremburg reisen und Händler und Handwerker für optische Instrumente zu sein vorgeben würden. Wir wurden einander kurz vorgestellt, mussten aber schon am nächsten Morgen damit beginnen, uns mit anderem Namen anzusprechen. Insgesamt waren wir zu siebt:


Federic von Marmond aus Lamorc, Tlamana. Glashändler und Investor
(mit wahrem Namen Gilbert von Dachsrode)

Ritter Tomrik vom Erlenkamm aus Wasserau, Emarania. Kaufmann für Augengläser, Lupen und Fernrohre
(mit wahrem Namen Normund von Lodenburg)

Lupert Pfannenblei, Optiker aus Arnstein, Arnach
Da man annahm, dass ich außerhalb meines Berufs kein bekannter Mann bin hatte ich keinen Decknamen, allein dass ich Optiker des Arnacher Ingenieurcorps auf Burg Arnach bin und vor langer Zeit Baron Jareck von Jolbergs Ordonnanzoffizier während der Unterzeichnung der Jolberger Verträge war, sollte geheim bleiben.

Romsen Sparhafer, Arnsteiner Glasmacher
(mit wahrem Namen Weldo Bergfeuer, Escandra. Ein kampferprobter Heliosritter, der es gewohnt ist, Dinge im Sinne des Königs einzuschätzen. Weldo kennt Kalveram von Audienzen am Königshof)

Rander Türnebel, Arnsteiner Glasschleifer
(mit wahrem Namen Harkil Kahlbruch, Holzfäller aus Köhlen, Tristenberg. Harkil ist ehemaliger Seesoldat der Ostarischen Marine und ein erfahrener Frontkämpfer. Er kennt Kalveram, weil er bei einer Überfahrt zu seinem Schutz eingeteilt war)

Flissa Kohlbrenner, Handelskontoristin aus Betis
(mit wahrem Namen Ephraima Schunkelbein, Ostarische berittene Eilbeamtin, vorübergehend im Dienst für eine Behörde, die uns nicht einmal Jareck von Jolberg nennen wollte)

Gravel Rentano, Logistier aus Betis
(mit wahrem Namen Pernillo Windigmann, ebenfalls berittener Eilbeamter im Auftrag der unbekannten Behörde)


Weil mir klar ist, dass die beiden Eilbeamten manchen geneigten Botenlesern nicht unbekannt sind, möchte ich an dieser Stelle eines anmerken: Nicht einmal während unserer fast zwei Jahre dauernden Reise haben wir herausbekommen können, ob Ephraima und Pernillo ein Paar sind oder nicht.

Nachdem detaillierter Einweisung durch Richard von Arnach, Gilbert von Dachsrode und mich machten wir uns mit unserer Ausrüstung vertraut. Reisekleidung mit einfacher und unauffälliger Bewaffnung, Maultiere und zwei Karren mit einem Grundbestand an Vorräten und Waren, aber auch einem kompletten Arnacher Reiseingenieurswerkzeugsatz, vorgeschliffenen Linsen, Rohmaterialien, zwei Zelten, einem Ofen - es hat uns nur an einem gefehlt, nämlich an Fachwissen. In den verbleibenden drei Wochen versuchte ich, allen soviel wie nötig über die Glasgewinnung und -verarbeitung, die Gerätemanufaktur sowie die Funktion und die optischen Grundlagen der von uns mitgeführten Augengläser, Lupen und Fernrohre beizubrinngen. Auch die Strukturen des Fachhandels versuchte ich zu referieren, soweit ich dazu als Ingenieur etwas zu sagen vermochte.

Die Anreise ist schnell erzählt. Wir sind über Tristenberg und Hohenforingen nach Jolberg gezogen, wo wir uns bei einem verschwiegenen Kaufmann der Handelsmarine einschifften und flussaufwärts über Härtwigs Hafen nach Kratorpolis segelten. Über die Leomark und Vjoshaven näherten wir uns der Reichsgrenze. Während der Reise führte ich meinen Schnellkursus fort, und wir verkauften unterwegs auch tatsächlich ein paar Augengläser an einen Baumeister in Kratorpolis.

Nuremburg liegt jenseits einer Bergkette, die aus der ohnehin bereits sehr hoch gelegenen Landschaft Nordheligonias nicht übermäßig herausragt, mit Gepäck aber schwer zu begehen ist. Jenseits des Höhenzuges geht es tagelang bergab, denn Nuremburg liegt viel tiefer als Nordheligonia, darum ist es dort im übrigen auch viel wärmer als um Vjoshaven herum, vergleichbar vielleicht mit Ostarien oder Norrland-Brassach. Über die Berge gibt es nur wenige sichere Pässe, und nur drei davon sind mit Karren befahrbar. Markgraf Kalveram und Baron Hagen haben den mittleren Pass über den Windfall genommen, der in eine Provinz namens Bocksloch führt. Damit haben sie sich für die von Norrland-Brassach aus kürzere Wegstrecke östlich der Ödlande und durch das Ælvkildeland entschieden, wir aber wollten den westlichen Pass nehmen, um als Händler keinen Verdacht zu erwecken. Der dritte Pass befindet sich weit im Osten, er führt über die Kapuasberge in eine entlegene Provinz namens Birkenhardt. Das wäre viel zu weit und auch zu auffällig gewesen.

Brosswiks Zollstraße

Der Weg über den Pass im Westen führt über die Berge in eine Provinz namens Halt. Er wird Brosswiks Zollstraße genannt, und wer sie begehen will, sollte mindestens zwei, besser drei Tage einplanen. In der Nähe der sehr felsigen Passhöhe gibt es eine sehr klug entworfene und modern gebaute Spornburg, die direkt über dem steilen Weg liegt. Brosswik ist der Kommandant der Burg, und ohne seine Erlaubnis ist es unmöglich, auf der anderen Seite des Berges lebendig wieder hinunterzukommen. Die Burg scheint schon lange kein aus Halt beanspruchter Landesteil mehr zu sein. Glücklicherweise fand man unsere Waren sehr interessant und so konnten wir beschließen, ein paar Tage zu bleiben, um herauszufinden, was es mit der Brosswik und seiner Burg auf sich hat.

Wir halten es für wahrscheinlich, dass Brosswik nicht von ehrbarem Stand oder zumindest nicht in legitimer Position ist. Es ist etwas ritterliches an ihm, doch bezeugt er dies nur durch seine Rede und sein Gebaren, aber nicht seine Ehre, denn er sieht sich als frei und will keiner Herrschaft dienen. Sein Ausspruch ist von einer Art, dass sie heligonisch sein könnte. Städtisch, vielleicht aus Escandra, Betis oder Hochanthen, manchmal auf unbeabsichtigte Art unmanierlich. Er scheint sich sehr sicher zu fühlen. Die Mächte Heligonias sind fern und aus Nuremburg hat er wenig zu befürchten. Er kontrolliert die Burg noch nicht allzu lange, zehn oder zwölf Jahre vielleicht, aber in dieser Zeit ist es ihm gelungen, mit verschiedenen Fraktionen des zerfallenen Reichens in Kontakt zu treten und sich abzusichern. Ihn zumindest als gewogenen Freund zu wissen mag für uns in der Zukunft von Vorteil sein, zumal ein anderer Weg sehr teuer wäre, denn Brosswiks Burg ist im Streit kaum ohne großen Heerbann zu nehmen.

Es scheint, dass Brosswik es nicht zu verhindern beabsichtigt oder vermag, dass eine Vielzahl an Spitzeln auf der Burg zugegen sind. Sie halten ihre Herren darüber informiert, was auf der Burg geschieht, wer in den Norden reist, wer in den Süden, und welche Anlässe es dafür gibt. Manches mal wenden sie sich auch an Brosswik, wenn sie nach dem Gutdünken ihrer Dienstherren eine Durchreise gewährt oder verwehrt sehen wollen.

Am Abend vor dem dritten Tage schließlich beschlossen wir die Weiterreise in die erste Provinz auf Nuremburger Seite: Die Baronie Halt.

Halt

Es gibt einen Begriff, den wir erst auf unserer Reise kennengelernt haben: Die Verheerung. Er bezeichnet das, was übrig bleibt, wenn der Krieg zu oft über eine Gegend gekommen ist. Es gibt in diesen Landschaften nichts mehr, was noch eine Ordnung hat, Städte und Dörfer sind zerstört, geplündert, niedergebrannt; die Brunnen vergiftet, keine lebende Seele zu finden. Überall umher liegen die Gestorbenen, manche von ihnen mit gräßlichen Kriegswunden, manche äußerlich unversehrt, aber dahingerafft von Hunger oder unbekannten Krankheiten. Wieder und wieder kamen wir durch die zerstörten Landschaften. Und obwohl wir alle früher schon vielfach auf Heerfahrt gewesen waren, bleiben wir - ausnahmslos alle, mal für mal - erschrocken über das Gesehene. Von dieser Art war unser Eindruck von der Baronie Halt. Und was, so fragten wir uns, ist eine Baronie, wenn sie kein Mensch mehr bewohnt, und wenn ihr Name nur noch Reisenden aus einem fremden Land bekannt ist?

Unsere Reise wurde von Tag zu Tag eiliger. Aus Angst, uns anzustecken, übernachteten wir nicht in den Siedlungen, aßen ausschließlich von unseren mitgebrachten Vorräten und suchten stets nach frischen Quellen in den Wäldern, wenn wir Wasser benötigten. Weitere Nachforschungen stellten wir nicht mehr an, denn wir wollten unversehrt in den Norden nach Hugluch gelangen, wo wir hofften, Hinweise auf den königlichen Siegelwahrer Graf Fenwik von Hugluch ausfindig machen zu können, der einer der Unterzeichner des Briefs an den König gewesen war.

Festgesetzt bei den Rebellen

Auf lebendes Volk trafen wir erst wieder nach einigen Tagen der Reise, und zwar in der Gestalt eines Hinterhalts. Unversehens standen wir einem Bauernheer gegenüber, vielleicht zehn Dutzend Männer, schlecht gerüstet, unorganisiert, aber allzu übermächtig in der Zahl. Sie schienen beinahe ebenso überrascht wie wir, hatten uns aber zuerst bemerkt und sich zu beiden Seiten des Weges im Wald und im Gebüsch jenseits eines Feldrains versteckt. Handel wollten sie nicht treiben, und es war auch offensichtlich, dass wohlgeschliffene Glaslinsen ihre Not nicht lindern würden. Die Elenden nahmen uns alles, was wir hatten, und wir mussten als Gefangene mit ihnen ziehen.

Wir wurden zu einem Teil ihres Trosses. Insgesamt mögen es dreihundert oder vierhundert verlorene Seelen gewesen sein; sie hatten alles, was ihnen an Habseligkeiten geblieben war, bei sich und auch drei Gefangene, zu denen wir gesperrt wurden. Es schien keinerlei herrschaftliche Ordnung zu geben, dennoch hatten sie einen ernannt, der sie anführte, Endel mit Namen. Er mag früher ein höherer Offizier gewesen sein, ein Heerführer vielleicht, kein schlechter Mann, voller Sorge für die Seinen. Er fragte uns erst aus und erklärte dann, dass man uns am Leben lassen würde, wenn wir uns dem Haufen unterwerfen und ein Dienstversprechen abzulegen bereit wären. Aus Neugier willgten wir ein.

Der Haufen zog nordöstlich in eine hüglige Gegend, die man uns nicht mit Namen nennen wollte. Immer dichter schlossen sich die Wälder um uns und wir wunderten uns täglich mehr, was der Haufen in der Wildnis zu schaffen hatte. Mitten in der Einöde schließlich wurde ein Lager errichtet, und wir erfuhren, warum man uns am Leben gelassen hatte: Wir sollten beim Bau eines Dorfes helfen.

Natürlich mussten alle anpacken, doch uns Gefangenen ließ man die vermeintlich schwerste und gefährlichste Arbeit, das Fällen der Bäume. Zum Glück hatten wir Harkil Kahlbruch dabei, dessen einzige Sorge die schlechten Axtstiele waren (sie brachen allzu schnell unter seinen kräftigen Hieben). Die anderen Gefangenen - wir waren nicht die einzigen, es gab noch zwei, Keldo und Tulda, der Dritte hatte sich verletzt und sich einen fiebrigen Wundbrand eingehandelt, den er nicht überlebte - sie waren nicht sehr gesprächig, aber voller Hass auf den Haufen. Sie gaben ihnen allerhand Namen und erklärten, dass sie Verbrecher seien; Abtrünnige, die Adel und Klerus untreu geworden waren; Ketzer, Apostaten und Häretiker. Sie waren fest davon überzeugt, dass man uns alle töten würde, sobald man uns nicht mehr brauchen würde. Ansonsten war nicht viel von ihnen zu erfahren. Widerwillig arbeiteten sie mit und versuchten bei der ersten günstigen Gelegenheit die Flucht. Tulda schaffte es, Keldo nicht. Man richtete ihn grauenhaft zu, bevor er starb.

Auch Endels Haufen war nicht besonders gesprächig. Tulda und Keldo hatten vielleicht nicht ganz recht, die Rebellen schienen einfach eine Art freies Ceridenvolk sein zu wollen. Den Einen haben sie nie geleugnet, aber ihre Religion war nicht von einer Art, die wir kennen. An ihrem Umgang und Tagwerk fand sich vieles, was dem Einen gefällig sein mag, doch es fehlte auch einiges, was einen rechten Ceriden ausmacht und es gab Bräuche und Rituale, die auf uns sehr fremd wirkten.

Niemand verließ die Gemeinschaft, auch nicht für kurze Zeit, und kein Besuch fand jemals seinen Weg von außen ins Lager. Weil sie uns nicht so recht einzuschätzen wussten, trauten uns die armen Teufel des verlorenen Haufens nicht und wir vermuteten, dass sie uns aus Angst, dass wir den Weg in ihr Lager verraten könnten, niemals ziehen lassen wollten, auch wenn es offensichtlich war, dass sie uns nicht, wie von Tulda und den anderen Gefangenen angekündigt, töten würden. Allerdings war auch noch viel zuviel Arbeit zu tun, denn auch als die Bäume gerodet waren, musste der Grund urbar gemacht werden. Waldboden ist kein Ackerboden, bis man ihn mit den Händen dazu macht.

Wir hatten beschlossen, weiterhin niemandem zu verraten, wer wir wirklich waren. Auch vor den mit uns gefangen gehaltenen Tulda und Keldo hatten wir uns stets nur mit unseren falschen Namen angesprochen. Mit der Zeit fanden wir sogar Gefallen daran, uns Dinge über unsere falschen Herkünfte zu erzählen, Witzchen über Tlamana oder Betis zum Besten zu geben oder Dinge zu erklären, die wir als "Händler" für bedeutende Geschäftsfinessen hielten. Interessant ist, dass man nach einer Weile seinen falschen Namen annimmt und zum Beispiel darauf hört, wenn man gerufen wird. Es sollte sich im übrigen später noch als Vorteil erweisen, dass wir dieses Spiel zu wirklich jeder Zeit spielten, in der Anwesenheit Anderer auch in der Nacht.

Über die Zeit - es war fast ein Jahr vergangen - kann ich sagen, dass der Rebellenhaufen nie wirklich unfreundlich zu uns war. Auf der einen Seite wurden wir wie Sklaven gehalten. Wir hatten Betten aus Reisig und im Lager, wenn wir unbewacht waren, keine Schuhe an. Dennoch war unsere Unterkunft nicht schlechter als die anderen, genauso einfachen Waldhütten. Wir wurden verpflegt wie die Eigenen. Die harte Arbeit - wir wurden dazu gezwungen, sie verrichten, aber wir wurden nicht geschunden. Als ein paar Monate vergangen waren, sah das Lager schon fast wie ein Dorf aus. Die Jungen, auch die Zwanzigjährigen - es war offensichtlich, dass sie nichts vom Frieden wussten, doch jetzt lernten sie das Leben kennen, wie es sein sollte. Und als sich wohl nach einem Dreivierteljahr einige der Frauen auf die Suche nach wilden Bienenstöcken gemacht hatten und anfingen, einen feinen Met anzusetzen, da erklärte man uns zwar nichts über das Fest, das mitzufeiern wir eingeladen waren. Doch am Ende gab man uns sieben Becher, wir erhielten sieben Anteile vom Ganzen und sieben Plätze an einer Tafel zusammen mit den Anderen.

Im Heerbann des Bischofs

Tulda, die geflohen war, hatte getan, was Endel und sein Haufen befürchtet hatten: Sie hatte das Lager verraten, und zwar an einen Mann, der sich Klavian nennt und der von sich glaubt und behauptet, als rechtmäßiger Bischof des Nordens der Schlüssel zur ceridischen Rettung des Königreichs zu sein. Keiner von uns hatte seinen Namen zuvor gehört und wir alle hegen schwere Zweifel an seiner Ehrlichkeit und seinen Absichten. Doch ich will nicht vorgreifen.

Klavian griff eines frühen Morgens mit einen Heerbann von vielleicht tausend Söldnern an. Der Kampf endete für viele Rebellen im Tod, auch für Unbewaffnete, und noch vor dem Mittag lagen alle Überlebenden in Ketten. Wir hatten uns von Anfang an beiseite gestellt und uns als Gefangene zu erkennen gegeben, was man uns auch auf Anhieb glaubte. Das überraschte uns im ersten Moment, doch wir fanden bald heraus, wer dafür verantwortlich war. Gleich nach dem Kampf ging der Bischof mit Tulda, der geflohenen Gefangenen, durch die Reihen und tötete nach ihrem Rat die meisten, manche davon sehr qualvoll. Ihr Geschrei nahm nicht ab den ganzen Nachmittag. Jeweils auf Tuldas Empfehlung bot er wenigen, die er für das Kriegshandwerk geeignetet und indifferent genug hielt, die Aufnahme in seinen Heerbann oder einen schnellen Tod an. Dabei versprach er auch, die Familien zu verschonen und sie ebenfalls aufzunehmen. Die meisten willigten ein. So erhielt der bischöfliche Heerbann vielleicht zwanzig zusätzliche Söldnerinnen und Söldner und ein paar zusätzliche Familienangehörige. Der verbliebene Rest wurde behandelt wie angekündigt.

Eine Kuriosität, für unser Empfinden, war die sofortige Taufe der übergelaufenen Krieger und ihrer Familien. Während unserer Zeit bei den Rebellen hatten wir zwar den Eindruck, dass viele der Leute vor dem Krieg durchaus ceridisch getauft und anständige Gemeindemitglieder ihrer Heimatdörfer gewesen sein mögen, doch Klavian bestand darauf, sie und ihre Familien persönlich noch einmal zu taufen, und dabei ließ er ihnen auch keine Wahl. Die hätten sie in der Vergangenheit getroffen, sagte er.

Alles, was an Vorräten zu finden war wurde eingesammelt, das Dorf niedergebrannt. Dann wurden wir zu Klavian und Tulda gebracht. Klavian erklärte uns, dass auch wir nun die Ehre hätten, zum Heerbann des Bischofs zu gehören. Man brachte uns unsere Maulesel, unsre Karren, Vorräte, Werkzeuge, Waren - alles war vollständig und unbenutzt! - und wies uns an, dem Zug ins Heerlager zu folgen, das einige Wegstunden entfernt gerade errichtet wurde.

Die Zelte waren auf ein paar verwucherten, ehemaligen Feldern errichtet worden, Kinder und alte Frauen sammelten von verwildernden Getreidestängeln eifrig einzelne Ähren von den Halmen, um sie zu mahlen. Es vergingen ein paar Tage, die wir nutzten, um uns ein Bild von unseren neuen Weggefährten zu machen.

Es könnte sein, dass der Bischof zumindest früher einmal rechtmäßig und ordentlich in sein Amt berufen worden ist. Bei offiziellen Anlässen, Feldandachten oder Ansprachen war seine Rede stets geschliffen, uns fielen keine Fehler auf, etwa liturgischer Art, wir bemerkten keinen Moment der Unerfahrenheit oder Anzeichen von Trug.

Schließlich packte sich der Heerbann und zog weiter, und in den ersten Wochen erkannten wir, dass der Bischof ein schlechter Mann ist. Er war stets nur auf den Vorteil der Seinen aus, er sammelte, raubte und plünderte ohne Gnade alles, was ihm nützlich erschien. Manchmal dachten wir, dass er einem Plan folgend Landstrich für Landstrich besuchte, um die Vorratskarren seines Heerbanns gefüllt zu halten. Doch manchmal wirkte es auch wie zufällig, wenn das nächste Ziel der Reise erwählt wurde. Sicher spielten eine verschworene Gemeinschaft von Fernspähern dabei eine wichtige Rolle.

Wir allesamt waren bei den Bischöflichen wohlgelitten. Es gab ein großes Interesse an unserem Handwerk, denn viele der Kleriker waren schon im fortgeschrittenen Alter und hatten ein Interesse an unseren Augengläsern. Für die Späher und Kundschafter waren unsere Fernrohre eine willkommene Verbesserung.

Die Bischöflichen hatten erstaunlich viele sehr kundige Handwerker und auch Gelehrte in ihrem Troß und uns schien, als wären sie stolz, nun auch Optiker und Glaswerker zu ihrer Gemeinschaft zählen zu können. Bei gesellschaftlichen Anlässen saßen wir oft an einer Tafel zusammen mit, soweit man das so sagen kann, vornehmeren Angehörigen des Heerbanns - manchmal plazierte man uns sogar in Sichtweite des Bischofs. Obwohl wir mit der Zeit sicher waren, dass niemand im Heerbann eine Ahnung von Kalverams Vorstoß haben konnte, beschlossen wir zu bleiben, um nach Hinweisen und Informationen zu suchen oder zumindest das Land kennenzulernen. Wir rechneten damit, möglicherweise längere Zeit zu bleiben. Um besser und glaubhafter arbeiten zu können, nahm ich Weldo Bergfeuer und Harkil Kahlbruch heimlich als Lehrlinge auf. Sie erwiesen sich als neugierige und talentierte Schüler und dies sei ihr Zeugnis: Sie sind beide treffliche Glaswerker und werden jedem Optiker von großem Nutzen sein können - Harkil mit herausragendem Talent für die Glasmacherei, die sowohl kräftiges Anpacken als auch ein feines Gespür für die Materialien, Arbeitsmittel und Rohstoffe erfordert und Weldo für die Glas- und insbesondere die Linsenschleiferei, die außerordentliches Fingerspitzengefühl, Geschick, Erfahrung und eine gewisse Rechenkunst erfordert.

Leider gingen nach einigen Monaten unsere Materialvorräte zur Neige und ich versuchte, dem Bischof zu erklären wie selten die irdenen Rohstoffe zu finden sind und dass der Bau eines Glasschmelzofens schwierig und aufwändig ist. Weil es im Südosten steil abfallendes Gebirge, Flüsse, einen See und viele Wälder gibt, fragte ich, ob wir in den nächsten Jahren auch dorthin ziehen würden. Der Bischof bejahte, in einigen Monaten sei ein Besuch in Brunnen vorgesehen, einem Landstrich in den nördlichen Ausläufern des Kaupasgebirges.

Wir machten einen Spaziergang und hielten in gebührendem Abstand Rat. Tatsächlich liegt Brunnen neben Bocksloch, wo Markgraf Kalveram nach unserem Wissen den mittleren der drei Pässe begangen hat. Weil wir sonst schon einen Großteil des ehemaligen Reiches gesehen hatten beschlossen wir, alles auf eine Karte zu setzen und in der Nähe von Brunnen zu fliehen, um zu guter Letzt allein durch Bocksloch zu ziehen. Wir hielten es für wahrscheinlich, dass Kalveram dort festgesetzt oder ermordet wurde. Und wenn dort ebenfalls keine Hinweise zu finden sein würden, hätten wir zumindest Gewissheit. Unsere Mission wäre dann zwar weitgehend gescheitert, der Pass in den Süden aber nicht weit.

Ich ersuchte um eine Audienz beim Bischof und gab Interesse an der Geologie des Gebirges vor, denn in der Tat könnte es dort spezielles Gestein, Sande und reichlich Holz für Holzkohle geben, so dass wir sicherlich zumindest Glas fraglicher Qualität hätten herstellen können. Ob sie gleichermaßen gut für die Linsenherstellung geeignet sind ist natürlich fraglich, aber das behielt ich für mich. Der Bischof trug mir auf, mit einem landeskundlich erfahrenen Kleriker über die Provinzen an den nördlichen Ausläufern des Kaupasgebirges zu sprechen. Jener hatte einiges zu erzählen, warnte aber auch vor Bocksloch und erklärte, dass der Bischof mit einem Heerbann von nur gut tausend Soldaten niemals dorthin reisen würde. Worin die Gefahr zu sehen war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

Als wir in die Nähe von Brunnen kamen, erfuhren wir von Gerüchten, die unter der Landbevölkerung kursierten, dass es in Bocksloch bald eine große Massentaufe der häretischen Renegaten geben würde. Der Bischof geriet sofort in Rage, wir aber beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen - als abtrünnige ehemalige Angehörige des bischöflichen Heerbanns würden wir sicherlich treffliche Überläufer darstellen können. Wir sortierten unser Gepäck, so dass jeder ein Säckchen hatte, das schnell mitgenommen werden konnte und warteten auf eine Gelegenheit.

Sie kam an einem regnerischen Abend, als alle Späher und Kundschafter im Heerlager waren und mit dem Bischof über die Situation in Brunnen beratschlagten. Wir verließen das Lager einzeln. Hinter dem Lager trafen wir uns und wateten in einem schmalen, flachen Bach bis zu einer Furt, den der Heerbann erst am übernächsten Tag erreichen würde. Wie durch eine Fügung des Einen klarte der wolkenverhangene Himmel auf und der volle Mond kam heraus. Wir rannten wohl eine oder zwei Stunden bis zum Morgengrauen und wanderten die folgenden Tage abseits der Straßen. Wir hielten kaum Rast, und schließlich waren wir sicher, sogar den Fernspähern weit voraus zu sein.

Die Strauchdiebe

Nach Bocksloch, das südwestlich lag, waren wir nur ein paar Tage unterwegs. Die wichtigen Verkehrswege waren fast überall verlassen, doch im Hinterland gab es das ein oder andere Dorf, wo man uns manchmal etwas zu essen und einmal sogar eine Unterkunft in der Form eines Stalls anbieten konnte. Der Stall gehörte einem alten Mann, der zusammen mit seiner Enkeltochter einen benachbarten kleinen, abgelegenen Hof mit einem wunderbar gepflegten Garten bewirtschaftete. Wir fragten ihn nach der Massentaufe, und er schien geradezu erfreut, uns breitwillig zu erzählen, dass jedermann eingeladen ist, der sich vom alten Klerus und der alten Herrschaft für immer lossagen und mit neuem und reinem Bekenntnis frei taufen lassen wolle. Die Taufe sei im dritten Xurl auf Burg Sullenstein in Bocksloch ausgerufen, und im Anschluss, sagte er, würde es eine große Festerei geben, wo niemand hungrig, durstig, ängstlich oder allein bleiben müsse.

Eines Abends - wir waren schon bis in die Ausläufer des Kaupasgebirges gelangt und auf der Suche nach Burg Sullenstein - fanden wir abseits der Straße einen ehemals prächtigen Hof, vielleicht früher einmal ein Rittergut, und wir hofften, dort vielleicht eine Nacht in Strohbetten verbringen zu können. Doch kaum dass wir das schön angelegte Geviert aus Wirtschafts- und Wohngebäuden erreichten, wurden wir von einer Bande von vielleicht zwölf Strauchdieben angegriffen. Es war der einzige wirkliche Kampf, den wir auf unserer gesamten Reise auszufechten hatten.

Den Anführer, der auf uns zukam und herablassend etwas von wehrlosen Händlern zu sagen begann, ließ Normund gar nicht erst ausreden sondern griff ihn direkt nach vorn an, Gilbert und Weldo dicht an seiner Seite. Harkil warf eine Axt nach einem Armbrustschützen, der an einem Fenster oberhalb stand. Ephraima und Pernillo standen plötzlich rechts und links hinter den Flanken der Angreifer (ich könnte nicht erklären, wie sie dorthin gekommen waren), Harkil und ich setzten nach. Nach wenigen Momenten war der Kampf vorbei, gewonnen von uns, den wehrlosen Händlern. Allein Normund trägt heute ein Andenken daran in seinem Gesicht.

Wir ließen die Toten nach Art des Landes liegen, plünderten die Küche des Hauses, in dem der hinterlistige Armbrustschütze sich versteckt hatte. Den Schützen selbst fanden wir blutüberströmt, aber noch lebendig unter dem Fenster, wo er zuvor gestanden hatte. Wir fragten ihn über seine Kameraden aus. Anscheinend hatten auch sie vor, zu der Taufe auf Sullenstein zu reisen, um fortan zu der Bande von häretischen Losgesagten zu gehören, die sie für wahrhaftig, heilig und gerecht hielten. Wir gaben uns mit unserem Vorhaben, ebenfalls zu der Taufe zu reisen zu erkennen, erlaubten ihm ein letztes Gebet und versprachen ihm, auf Sullenstein Zeugnis über seinen Namen und seine Absicht kundzutun, dann spalteten wir seinen Schädel und zogen weiter, die Nacht durch. Man weiß nie.

Zu Gast auf Sullenstein

Wir erreichten Burg Sullenstein tatsächlich schon im Morgengrauen und wurden, nachdem wir unsere Absicht und unsere vermeintliche Herkunft erklärt hatten, freundlich empfangen. Wir bekamen Tee, Linsengrütze mit Zwiebeln und Schmalz, Decken und ein paar Schlafplätze in einem überdachten Unterstand auf dem Burghof. Es war ein einfaches Strohlager, aber nach all den Strapazen waren wir froh darüber. Wir verschliefen den halben Tag, später mischten wir uns unter das Volk und lernten ein paar Leute kennen. Sie waren sehr gemischt zusammengesetzt, viele waren auf der Suche nach dem Schutz einer Gemeinschaft hergekommen, viele schienen aber auch, ähnlich wie die Strauchdiebe, von den Absichten der Rebellen überzeugt. Es gab Arme und Reiche und sogar zwei Angehörige des niederen Landadels - ein junges, unverheiratetes Paar aus dem Osten des Landes, das einerseits nicht mehr an die herrschaftliche Legitimation ihrer Herkunftsfamilien glaubte, andererseits aber auch große Zukunftsangst hatte. Sie wollten sich taufen lassen, um frei miteinander leben zu können. Wir versuchten, von ihnen mehr zu erfahren, doch sie gaben sich ahnungslos - aus Vorsicht möglicherweise, vielleicht hatten sie aber auch tatsächlich keinen Schimmer.

Am darauffolgenden Tag wurden wir nacheinander zu einer ältlichen Frau namens Lusina geschickt. Sie schien eine Respektsperson zu sein, obwohl sie wie alle Rebellen keinen Wert auf Titel, Anrede oder die Benennung des Amtes legte. Wir wurden alle in einen Vorraum ihres Zimmers gebeten. Nacheinander ließ man uns einzeln zu ihr hinein, am Ende des Gesprächs wurden wir jeweils gebeten, eine Wendeltreppe hinunter in den Hof zu nehmen, so dass wir alle gleichermaßen unvorbereitet zu ihr kamen.

Mit allen von uns führte sie dasselbe Gespräch. Sie hörte sich interessiert an, wer wir waren, was wir erlebt hatten, was uns an den Losgesagten (so scheinen sich die Rebellen zu nennen) interessierte und was wir schon wussten. Die Taten des Bischofs schienen ihr Mitleid zu erregen. Danach erklärte sie verschiedentliche Dinge, die wir ihrer Ansicht nach noch erfahren mussten und sie munterte uns auf, alles zu fragen, was uns interessiert. Sie erklärte dann, dass wir mit der Taufe die Verantwortung über uns selbst übernehmen würden, dass wir fortan frei von weltlicher und kirchlicher Herrschaft seien und alles in unseren Händen liegen würde, Gutes und Böses. Sie erklärte uns das Taufritual und gemahnte uns alle, den Wechsel gut zu überlegen, unser Herz zu befragen und uns, sobald wir entschieden seien, sorgfältig vorzubereiten. Die beiden von uns, die vorgegeben hatten, von edlem Stand und Herkunft zu sein, wies sie darauf hin, das sie alle Ansprüche verlieren würden, dass sie sich mit den einfachen Leuten gemein machen und ein Ritual durchlaufen müssten, das sie "für immer aus dem Adelskreis entfernt". Sie kündigte an, dass sie zwar bei den Losgesagen sogar besonders willkommen sein würden, warnte aber auch davor, dass sie von Ihresgleichen nach der Taufe nichts mehr zu erwarten hätten als Mißachtung, Unrecht und Feindschaft.

Wir alle hatten Lusina einerseits als freundlich, interessiert und zugewandt sowie als offen für ein ehrliches Sprechen, aber auch als sehr streng und kompromisslos den Grundsätzen der Losgesagten folgend erlebt. Ich gebe zu, dass manche von uns - auch ich - Vorbehalte hatten, doch am Ende entschieden wir, an der Taufe teilzunehmen.

In den nächsten Tagen bekamen wir eine Reihe von Unterweisungen. Für die Auslegung und Diskussion theologischer Grundsätze tauge ich nicht, aber ich habe mir gemerkt, dass die Losgesagten durchaus an den Einen glauben, sie sind bekennend und haben untereinander und zu Fremden ähnliche Regeln zu achten wie alle Ceriden. Das Besondere scheint eher die Gleichheit zu sein, die in Zukunft unter allen Menschen herrschen soll, die Unmittelbarkeit der Verbindung zum Einen, die persönliche, niemandem in besonderer Weise zustehende Macht, an der alle in gleichem Maß Anteil haben - eine Macht, die nicht genommen sein darf durch weltliche oder klerikale Herrschaft.

Dann kam der Tag vor der Taufe. Wir bekamen alle ein graubraunes, grobes Gewand aus Leinen, es gab unterschiedliche Größen, aber ansonsten keine Unterschiede, auch nicht zwischen Männern und Frauen. Alle hatten sich der "Erklärung" zu stellen, das eine Art Verhör mit verteilten Rollen entsprach. Man musste einem Boten des Einen und einem Boten des Daimon Rede und Antwort stehen. Es kam darauf an, das Böse zu erkennen, dem Bösen zu entsagen, sich dem Guten als würdig zu erweisen und zu versprechen, dass man ein dem Einen gefälliges Leben führen möchte. Erst am Abend gab es für alle ein karges Mahl, und alle hatten im Hof bei einem großen Feuer auf dem Boden zu schlafen.

Am darauffolgenden Tag wurden wir aufgeteilt. Die meisten gehörten dem Haufen der bald ehemaligen Gewöhnlichen an, ein paar waren aber bisher auch Edle gewesen - Adelige, Kleriker oder anderweitig hochgestellte Persönlichkeiten. Die Gewöhnlichen hatten zu versprechen, dass sie die Bürde der Verantwortung, die ihnen bisher genommen war, zukünftig zu schultern bereit seien. Die Edlen mussten ihrem Stand und allen Privilegien entsagen, sie mussten auf allen Besitz und alles Erbe verzichten. Das Ritual sah vor, dass der Stand, dem sie seit der Schwertleite angehörten und in den sie oder ihre Vorfahren mit dem Ritterschlag erhoben wurden, von ihnen genommen wurde. Sie mussten sich am Anfang einer doppelten Reihe Gewöhnlicher aufstellen und diese ohne zu rennen durchschreiten, wobei sie von jedem der Gewöhnlichen einen mehr oder weniger gnadenvollen Streich mit dem Ochsenziemer erhielten - eine entehrende Strafe, denn der Ochsenziemer wird in Nuremburg ausschließlich für Tiere gemacht. Es war für die meisten von uns unerträglich, Normund und Gilbert so etwas anzutun, auch wenn wir sie natürlich nicht wirklich schlugen.

Danach hatten wir uns zu waschen und das eigentliche Taufritual wurde durchgeführt, wobei alle noch einmal einzeln vor zwei befreundeten Zeugen öffentlich ihren Entschluss und ihr Versprechen wiederholen mussten.

Am Abend schließlich gab es ein Festessen, das sogar in Heligonia als wahrhaft üppig gegolten hätte. Es gab Musik und es wurde auch reichlich Bier, Met und Wein gereicht. Auch wenn Gilbert und Normund noch ein wenig der Rücken vom Ochsenziemer schmerzte, waren wir doch bester Laune und vergaßen für ein paar Stunden die Gründe unserer Anwesenheit.

Erst spät in der Nacht wurden sie uns wieder bewusst. Es gibt einen zusätzlichen, nicht ganz offiziellen Programmpunkt, das wohl eher Tradition als Ritual ist, an dem teilzunehmen Gilbert und Normund aber genötigt wurden. Im Keller der Burg, so hieß es, seien noch Adelige eingesperrt, die die Taufe ablehnen. Alle frisch getauften ehemaligen Adeligen hatten einen Ochsenziemer zu nehmen und ein Spalier zu bilden, so wie am Nachmittag zuvor die ehemals Gewöhnlichen für die ehemals Adeligen.

Normund und Gilbert versuchten, sich herauszureden, sie gaben vor, zu betrunken zu sein, aber man ließ ihnen keine Wahl. Sie und eine Handvoll andere wurden in das Gefangenenquartier im Keller der Burg geführt. Sie hatten sich in einer Zweierreihe aufzustellen und drei zerlumpte Gestalten wurden hereingeführt. Einer der Losgesagten erklärte kurz, dass sie durch die Reihe zu rennen hatten (für sie war es erlaubt zu rennen), am anderen Ende einen edlen Zinnbecher nehmen und wieder zurückrennen. Man würde ihnen den Becher bis an den Rand mit dem besten und süßesten Met füllen und sie wieder in ihre Zellen einschließen. Man solle fest zuschlagen, um nicht die Glaubwürdigkeit der Taufe zu verlieren.

Normund und Gilbert machten sich nichts daraus - sie rechneten damit, drei armen Teufeln einen leichten Streich zu versetzen. Auch wenn die Gefangenen von edlem Stand und Herkunft waren - in den letzten Monaten hatten wir derart viel Leid mitansehen müssen, dass Normund und Gilbert im ersten Moment kein rechtes Mitleid und auch keine Reue verspürten.

Und dann wurden die Gefangenen nacheinander durch die Reihe geschickt. Und zweimal, einmal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg, schlugen Normund und Gilbert ihren Markgrafen mit einem Ochsenziemer. Kalveram war gefunden.

Die Flucht

Wir anderen waren überrascht, wie verstört Normund und Gilbert waren, als sie wiederkamen. Sie ließen sich nichts anmerken und tranken ihre Becher leer. Dann kündigten sie an, dass sie müde seien und zu Bett gehen wollten. "Das solltet ihr auch tun, ihr Glaswerker!" fügten sie hinzu.

Schon vor langer Zeit hatten wir auf der Anreise ein paar Redewendungen überlegt, die über das Gesagte hinaus wichtige Dinge signalisieren können, die nur wir untereinander verstehen. Und wir verstanden sofort. Um nicht aufzufallen, mischten uns unter die anderen Feiernden, tranken noch ein-zwei Becher und gingen, einer nach dem anderen, zu unserm Lager. Es wäre, wenn ich ehrlich bin, ohnehin bald Zeit gewesen. So wie hier hatte seit langer Zeit niemand von uns zugelangt.

Wir versuchten, einige Stunden zu warten, bis es sehr spät war. Natürlich schliefen die meisten von uns dabei ein, aber Ephraima und Pernillo schafften es, wach zu bleiben. Als es kurz vor Morgengrauen endlich still wurde, packten wir leise in der Dunkelheit die wichtigsten Dinge zusammen und verließen die Burg.

Zunächst fühlten wir uns unbeobachtet, gingen zur Straße hinunter und wanderten talaufwärts. Weldo war in einer für Fluchtabsichten ziemlich schwierigen Verfassung, er konnte kaum geradeaus laufen. Ich hatte beim Hinauslaufen ein paar Brocken kaltes Fleisch und salzigen Käse mitgehen lassen, er aß alles auf und trank reichlich Wasser aus einem Bach, an dem wir vorbeikamen.

Im Morgengrauen hörten wir, dass wir verfolgt wurden. Wir begannen zu rennen. Es schienen nicht viele Verfolger zu sein. Sie kamen ausschließlich von hinten die Straße entlang, vermutlich von Sollenstein, wahrscheinlich hatten auch sie auch nicht lange geschlafen. Sie hatten einen Scharfschützen dabei, der hin und wieder einen Pfeil schoss. Die meisten gingen daneben, aber einer traf Gilbert in die Schulter. Wir schlugen uns in die Büsche, brachen das Ende des Pfeils ab und wollten weiter, als wir mit Erstaunen plötzlich einen Hund und Geschrei vernahmen. Es schien einen Tumult zu geben, und die Verfolger flohen.

Trotzdem gingen wir weiter, etwas langsamer und schließlich auch auf der Straße, weil die Landschaft unwegsamer wurde. Es ging sehr lange bergauf, wurde kälter, einsamer und windiger. Der heligonische Norden ist ein Hochland, das jenseits der Berge und viel höher liegt, das Klima ist rauher und als wir uns abends einen abgelegenen Lagerplatz suchten, legten wir ein unauffälliges Grubenfeuer an, um in der Nacht etwas Wärme zu haben. In besserer Verfassung wären wir die Nacht durch weitergezogen, aber Weldo ging es nicht gut, er schien krank geworden zu sein und in Gilberts Schulter steckte immer noch ein Pfeil, sie schmerzte, war ganz dick und rot, es schien ihn aber nicht aufzuhalten. Wir ruhten ein paar Stunden, konnten vor Kälte kaum schlafen und brachen kurz vor Morgengrauen auf.

Die Straße war still geblieben, also folgten wir ihr weiter bergauf. Schließlich bemerkten wir einen dünnen Rauchgeruch, dem wir vorsichtig folgten. Wir kamen in ein Dorf namens Haldenrot, wo wir in einem sehr schlechten Handel ein paar Blutwürste und fettigen Rauchspeck eintauschten und dann weiterzogen. Der wilde Norden Heligonias würde kalt werden, das war uns mittlerweile klar.

Spätnachmittags hatten wir es fast geschafft. Es war noch kälter und windiger geworden, die ersten baumlosen Grinden kamen in Sicht und es hatte begonnen zu schneien. Aus der Ferne war anfangs ein Bergfried zu erkennen gewesen, wir verloren ihn aber aus dem Blick, als das Schneetreiben immer schlimmer wurde. Wir konnten uns nur noch an der Windrichtung orientieren. Mit zunehmender Mühe wanderten wir weiter durch den Schnee, bis es schließlich zu dämmern begann. Die Sichtweite wurde etwas besser, vielleicht zweihundert Fuß weit konnten wir die Umrisse von Sträuchern und niedrigen Bäumen ausmachen, als wir eine Bewegung wahrnahmen. Immer wieder im Schneetreiben verschwindend folgte uns ein Tier. Es folgte parallel zu uns in einiger Entfernung, hielt stets Schritt und näherte sich nie weit genug, dass wir es hätten erkennen können. Der Schritt ähnelte dem eines Wolfes, doch es musste dunkler sein, sonst wäre es noch weniger sichtbar gewesen. Es schien auch nur ein Tier zu sein... was uns beruhigte, denn ein Wolfsrudel wäre gefährlicher gewesen.

Das dämmrige Zwielicht schien ewig anzuhalten, der Wolf folgte uns weiter. Wir alle waren erschöpft, aber für Gilbert und Weldo war es am schlimmsten. Weldo war schwach und fiebrig und faselte wirr vor sich hin, oft Unverständliches, manchmal auch Worte, in denen wir keinen Sinn erkannten. "Ja, hilf mir, ich wollte es wirklich", murmelte er immer wieder. Gilbert trottete scheinbar gleichmütig dahin, seine kraftlosen Schritte und weichen Knie waren für uns aber deutlich zu erkennen. Schließlich wurde es dunkel. Der Wolf war nicht mehr zu erkennen, wir fragten uns, ob er uns noch folgte. Der schwere Schnee wurde immer tiefer und wir wurden immer langsamer. Nachlässiger werdend, bemerkten nicht, wie sich uns von vorn eine Gestalt näherte. "Habt keine Angst!" rief sie, als sie stehen blieb und uns herbeiwinkte.

Die Gestalt war allein, also näherten wir uns ihr. Es war eine einfache Frau, in ein sehr dünnes Hirtengewand gekleidet, mit einem Stab und zwei großen, schwarzen Hunden. Ob einer davon unser Begleiter war, der vermeintliche Wolf? Die fremde Frau schaute uns mit ruhigen Augen an, sie schien gar nicht zu frieren. Wir gingen ein paar Schritte auf sie zu. Sie lächelte und wandte sich an Weldo. "Ich bin jetzt da, Weldo Bergfeuer, ich helfe dir und deinen Freunden", kündigte sie an.

Was dann geschah, kann ich nur glauben, weil die anderen es auch gesehen haben. Einer der Hunde des Hirtenmädchens (niemand von uns erinnert sich, ob sie alt oder jung ausgesehen hat) verlor seine Umrisse für einen Moment und verwandelte sich in einen Mann, schwarz gekleidet, alt, mit einem Umhang. Er beugte sich über Weldo, offensichtlich war er ein Heiler. Er untersuchte ihn und wirkte augenscheinlich einen Zauber, dann ging er zu Gilbert und kümmerte sich wortlos um seine Wunde. Er brachte es zustande, die Pfeilspitze herauszuziehen, ohne dass die Wunde aufging und allzusehr zu bluten begann. Er machte aus einem Streifen seines Umhangs einen Verband, dann erhob er sich und stellte sich neben die Schäferin. Das alles geschah einfach, wir waren zu erschöpft, zu erstaunt und zu ängstlich, um Fragen zu stellen.

"Es wird bald aufklaren, nur für kurze Zeit", sagte die Hirtin. "Findet den Stern, den ihr Redon nennt. Entfernt euch von ihm, geht vielleicht zwei Stunden oder drei südlich und haltet nach einer Hütte am Abhang Ausschau. Die Hütte steht in eurem Land, dort wohnt eine Waldläuferin namens Jorunn, sie kann helfen. Weldo und Gilbert sind sehr krank, sie werden nur leben, wenn sie für einen Monat nicht reisen müssen. Der Winter naht, kehrt auf dem großen Fluss heim, nicht auf dem Kleinen."

Sie kehrte um und ging mit ihren beiden Hunden in die Dunkelheit des Schneetreibens, den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Und alles, was sie gesagt hatte, geschah.