Leroy's Nicht-Schänke

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„Die Hälfte der Reise besteht im Aufbruch“ (Hochländisches Sprichwort)

Der Nebel hing handbreit vor meinen Augen. Meine Haare waren davon mittlerweile so benetzt, dass mir Wassertropfen aufs Gesicht perlten, es begann zu dunkeln und was ich unter meinen Füßen erahnte, war eindeutig keine Straße mehr. Es war nicht einmal ein Weg.

Ein Tropfen fiel in meinen Nacken und ganz langsam spürte ich, wie mit ihm ein ungutes Gefühl mein Rückgrat hinunterlief und begann, sich auf die Schulterblätter auszubreiten. In diesem Land gab es Wölfe und, wie man erzählte, noch weitaus Seltsameres, Unaussprechliches. Just in diesem Moment knackte ganz nah ein Ast. Schlagartig gerann das Gefühl zu blanker Panik, wie ein Blitzschlag in Arme und Beine zuckend und ich rannte einfach los. Doch ich kam nicht weit. Nach wenigen Schritten prallte ich gegen etwas Großes, etwas sehr Großes mit nassem rauem Fell.

„Ceata anbeit?“, oder so etwas Ähnliches sagte eine Stimme, und dann, menschlicher und verständlicher, wenn auch mit schwerem Akzent: „Wenn habn wir denn da?“ Ich sah direkt vor meiner Nase ein grimmiges Gesicht mit einem dunklen Bart, daneben eine breite Klinge, die nach oben und unten im Nebel verschwand. Ich war nicht in der Lage zu antworten.

„Einen Tiefländer“, sagte eine zweite, weibliche Stimme hinter mir. „Betis, Jolbruck, Herzogsbruck. Irgendwo aus dieser Ecke. Vielleicht auch Welzen. Nun schau doch nicht so, Du machst ihm ja Angst.“

Das stimmte. Die Tatsache, dass die Frau – oder das Wesen – hinter mir in diesem Nebel sowohl meine Herkunft erahnen als auch den Gesichtsausdruck ihres Begleiters erkennen konnte, machte mich aber auch nicht ruhiger.

Der Mann grunzte und nickte dann. Er steckte sein Schwert weg und nahm mich beim Arm, während an meiner anderen Seite die Frau erschien, die deutlich kleiner, blond und – den Göttern sei Dank – menschlich zu sein schien. „Am besten kommst Du mit uns“, sagte sie. Es war kein Vorschlag, sondern eine Feststellung und mangels sinnvoller Gegenvorschläge nickte ich stumm. So wurde ich von dem Paar in den Nebel hinein abgeführt.

Wir waren keine fünfzig Schritte gelaufen, da erschien im Nebel eine Holzwand mit einer Tür. Der Mann klopfte. Von der anderen Seite kam ein unverständliches Gebrüll, der Mann antwortete etwas Längeres, ebenso Unverständliches und dann öffnete die Tür sich. Licht drang heraus, ich wurde über die Schwelle geschoben, meine Begleiter folgten mir und ich stand - in einer Schänke oder zumindest in etwas Vergleichbarem.

Fast alles hier war aus Holz. Tische, Bänke, einzelne Sitze, die Wände, der Boden, der schwere Tresen. Nur der Kamin und das Geviert davor bestanden aus Stein, nicht gemauert, sondern aus behauenen Quadern zusammengesetzt. Zwei Hunde lagen davor, die bei unserem Eintreten aufsprangen, sich auf einen Wink des Mannes am Tresen aber wieder hinlegten und uns nicht mehr beachteten. Kerzen brannten auf den Tischen und mehrere Talglampen standen und hingen umher; Felle lagen auf den Bänken und auf dem Boden, mehrere Schwerter und eine Axt ruhten an der Wand hinter dem Tresen, weitere Waffen auf einem Gestell am Eingang. Dann waren da die Menschen.

Ein gutes Dutzend Erwachsener, Männer wie Frauen saßen an zwei Tischen, in einer Ecke spielten zwei größere Kinder, ein Mann und eine Frau mit einem Säugling hockten bei den Hunden. Die meisten trugen Gewänder sowohl aus Leder als auch aus Stoff, einige auch Felle. Jeder schien eine Kette, einen Beutel oder ein Stirnband zu tragen, soweit ich es sehen konnte auch Schwertscheiden und eine Frau hatte eindeutig einen Dolch im Stiefel. Mittendrin und völlig fehl am Platz erscheinend saß eine Frau in Drachentrutzer Tracht. Und alle, alle schauten zu mir her – schweigend. Tödliches Schweigen, so kam es mir vor, als hätte ich ihre geheime Zusammenkunft gesprengt und würde nun gleich bestraft werden.

Dann sagte einer etwas in ihrer unverständlichen Sprache und haute seinen Krug dabei auf den Tisch, alle begannen brüllend zu lachen und hoben ihre Krüge und Hörner und der Mann, der mir am nächsten saß, machte eine einschenkende Geste zum Wirt und deutete auf mich. Der Wirt nickte und füllte etwas aus einer großen Holzkaraffe in ein Krüglein. Als sich der Lärm etwas beruhigt hatte, erhob die Frau an meiner Seite das Wort.

„Wir haben ein verirrtes Lamm gefunden, das wohl ein bisschen gepäppelt werden muss“, sagte sie. Brüllendes Gelächter, sich hebende Krüge. Der Wirt drückte mir das Krüglein in die Hand und nickte ermutigend. „Austrinken“, sagte er leise. Ich roch an dem Getränk – zu meiner Erleichterung handelte es sich offenbar ganz einfach um Bier. Da kenne ich zum Glück keine Scheu und einem geschenkten Getränk schaut man nicht ins Maul – man gießt es in dasselbe. Ich hob also das Krüglein und trank es in einem Zug leer. Die Gäste johlten, prosteten mir zu und tranken ebenfalls. Der Wirt klopfte mir auf die Schulter und schob mich ans Ende eines der Tische, meine Begleiter setzten sich zu mir. Ich legte meine Tasche zu meinen Füßen ab. Zum ersten Mal, seitdem ich von der Aximistiliusstraße abgekommen war, fühlte ich mich entspannt.

„Ich bin Leroy“, sagte der Wirt. „Wie heißt Du?“ Ich nannte meinen Namen und sofort hob die blonde Frau neben mir die Hand. „Chisnedy!“, rief sie. „Jerrock“ brummt der Mann, in den ich im Nebel gelaufen war – das nasse Fell war sein schafswollener Umhang gewesen, aus dem er sich jetzt schälte. Sein Schwert, dessen Größe ich mit vier Schritt doch etwas zu hoch geschätzt hatte, hängte er an den Waffenständer, während einer nach dem anderen im Saal einen hochländischen Namen in den Raum warf, den ich mir nicht merken konnte. Nur die drachentrutzisch gekleidete Frau hieß einfach Gerlind.

Mittlerweile stand ein neuer Krug Bier vor mir. Ich dankte Leroy und machte ihm ein Kompliment wegen seiner hübschen Schänke. „Nun, das ist gar keine Schänke“, sagte er. „Eigentlich wohne ich hier.“ „Und machst Bier“, sagte Jerrock. „Und setzt Or-Ban an“, ergänzte Chisnedy. „Und drückst Dich vor dem Schafehüten“, lachte Gerlind. Jeder hatte ein Argument beizusteuern, warum Leroy letztlich fast immer hier war und schließlich hob dieser grinsend die Hände. „Jaja, ich weiß. Es ist irgendwie wohl doch eine Schänke, aber nicht – wie heißt es – offiziell. Also das kam so…“

Leroy geriet ins Erzählen. Offenbar machte es ihm Spaß, mit einem neuen Gast zu reden und derweil spielte eine der Frauen die Wirtin, wenn jemand etwas brauchte. Eine eigentliche Bedienung gab es nicht, man holte sich seine Getränke am Tresen ab. Dort gab es auch Brot, geräucherte Würste, einen seltsamen Käse, Crodh genannt und essigsauren Krautsalat, der mir nicht so lag, die Schafsrippchen, die gegen später aus der Speisekammer geholt wurden, dafür umso mehr.

Schließlich musste auch ich berichten, was mich eigentlich über die Aximistiliusstraße trieb und wie ich im Nebel den Weg verloren hatte. Das sei gar nicht so einfach, wurde mir beschieden. Aber die guten Geister (es fielen über Alfare bis zu Moosmutzelchen verschiedene seltsame Namen) hätten mich ja vor dem schrecklichen Schicksal bewahrt, auf ewig in der Anderswelt zu wandeln und mich sanft vor die Hintertür von Leroys Nicht-Schenke geschoben, um dort aufgelesen zu werden. Es setzte sich immer wieder jemand anders zu mir, um mit mir zu plaudern. Offenbar waren Tiefländer hier willkommen. Ich schaute zu Gerlind.

„Woher aus dem Tiefland ist Gerlind?“, fragte ich Chisnedy. „Frag sie doch selber“, antwortete diese. „He, Gerlind! Unser Gast behauptet, Du bist Tiefländerin!“ Gerlind erhob sich und trat zu uns. „Bin ich doch auch“, sagte sie. „Tiefland-Hochländerin. Also meine Familie kam mit anderen vor einigen Generationen hierher. Das hing mit dem Dorchiu zusammen, wie es in unserer, also in meiner anderen Sprache heißt. Aber das muss ich Dir wohl erläutern…“ „Sie wird dir mehr darüber erzählen, als Du je wissen wolltest“, meinte Chisnedy. Mich beschäftigte etwas anderes mehr. „Du hast zwei Sprachen?“ Gerlind schaute mich erstaunt an. „Hallo?“ fragte sie und wies rund im Schankraum umher. Ich hatte es bisher nicht wahrgenommen oder nicht verarbeitet, aber jedes Gespräch, von dem ich Wortfetzen erhaschen konnte, fand auf tiefländisch statt, mit schwerem, leichtem oder gar keinem Akzent. Sogar die Kinder, die gerade einen der Hunde zärtlich triezten, taten dies mit mir verständlichen Worten.

„Es ist unhöflich, jemand den Mund zu verbieten“, erläuterte Chisnedy. „Und das täten wir letztlich, wenn wir nur in unserer Sprache reden würden. Meine Großeltern hätten sich da schwer getan und Gerlinds auf der anderen Seite auch, aber mittlerweile kann hier eigentlich jeder zumindest einigermaßen auch die andere Sprache.“ „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte ich. „Dass eine ganze Schänke die Sprache umstellt, nur weil einer wie ich daher kommt. Und es sind viele Frauen hier und auch Kinder…“ Ich hätte mir fast in die Zunge gebissen – idiotisch, so etwas zu zwei Frauen zu sagen! Aber die beiden zuckten nur die Achseln. „Das Hochland ist rau“, sagte Chisnedy. „Man muss hier zusammenhalten, egal, woher man kommt und was man ist. Der Einzelne ist verloren. Ich weiß, dass es im Tiefland mancherorts anders ist, vor allem in den Städten, aber hier sind die Rudel noch intakt, weil es nicht anders geht – und Gäste sind willkommen, denn auch wir sind anderswo Gäste. Und was die Frauen angeht, verrate ich Dir ein Geheimnis.“ Sie beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: “Wir bewachen auch die Herden. Wir suchen auch Eithill in der Einöde. Wir führen auch das Schwert.“ Es fiel mir schwer, ihren Worten zu folgen, denn ihr Ausschnitt hing genau unter meinen Augen, aber ich konzentrierte mich. „Weißt Du, wir sind überall! Ihr Männer seid schließlich auch überall! Und die paar Unterschiede – die siehst Du ja!“ Ich zuckte errötend zurück und erwartete, umgehend von Jerrock oder irgendjemand anderem gefordert zu werden. Aber offenbar war Chisnedy niemandem versprochen oder wie auch immer die Mechanismen da waren. Jerrock sah mich wohl grimmig an, Leroy eher amüsiert und Chisnedy selbst wollte sich ausschütten vor Lachen. „Wir sind überall“, rief sie. „Das ist ein gutes Stichwort. Lauren, sing uns ‚Kashai von Überall‘!“ „Geht nicht“, antwortete ein drahtiger Mann vom Nebentisch. „Ich verliere gerade beim Würfeln!“ „Und aus!“, rief sein Gegenüber. „Du zahlst für mich! Komm schon, ich gebe einen Or-Ban aus, wenn Du singst!“ „Na gut“, brummte Lauren. „Muss mich nur kurz auf den Text besinnen…“ Während Lauren umständlich von der Bank aufstand, goss Leroy schon eine milchige Flüssigkeit in kleine Holzbecher und einer landete auch vor mir – und war ruckzuck, da alle die Becherchen hoben, in mir. „Sapristi… - was war denn das?“, fragte ich keuchend. „Or-Ban“, sagte Leroy. „Kennst Du das nicht? Kennt doch jeder…“ Da begann Lauren zu singen. Er sang nicht direkt schön, aber ausdrucksstark und auf tiefländisch. Es ging um eine Beziehung-doch-nicht-Beziehung zwischen einem Hochländer und einer Tiefländerin; das Motiv war hier offenbar recht aktuell. Als nächstes folgte ein Lied, das ich kannte! Ich grölte den Kehrreim mit und bemerkte anschließend zu meinem Nebensitzer, der wieder gewechselt hatte (nur Chisnedy blieb konstant an meiner Seite): „Ihr kennt das ‚Schaf ohne Kopf‘ also auch?“ „Wieso auch?“, fragte er irritiert. „Das Lied ist doch von Canoch MadUaine.“ Wer auch immer das war, es war offensichtlich einer von ihnen. Ich musste wohl noch viel lernen…

Der Abend schritt weiter voran, und irgendwie stand immer ein Getränk vor mir, wir landeten beim Whiskey und schließlich wieder beim Bier, ich lernte mir unbekannte Spiele kennen und diskutierte darüber, ob man nach den Tod in Poenas Garten oder doch als Stern an den Himmel kommt. Es kamen wenige Gäste dazu und es gingen auch wenige, der Säugling wurde irgendwann ins Bett gebracht und relativ spät verzogen sich auch die Kinder. Was alles noch geschah, ist mir leider nicht mehr komplett in Erinnerung geblieben, ich glaube noch zu wissen, dass ich lauthals ein Lied in einer Sprache sang, die ich gar nicht kannte, dass es eine kleine Rauferei gab, an der ich aber nicht beteiligt war und dann ist da noch ein vages Bild, wie ich von jemandem gestützt eine hölzerne Stiege hinaufwankte. Dann war Nacht oder etwas tieferes, undurchdringlicheres als Nacht.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf und unter Fellen und musste dringend auf den Abort. Meine Gewänder und meine Tasche lagen neben mir und darauf einige lange blonde Haare. Ich war aber allein. Die Sonne schien durch ein kleines Fenster und stand schon halbhoch am Himmel. Mühsam warf ich mir etwas über. Die Stiege fand ich nicht, dafür eine Leiter, die mich in einem benachbarten, nicht abgetrennten, aber tieferliegenden Raum führte. Dieser hatte eine Tür nach außen. Ich landete auf einer Wiese, hinter mir ein mittelgroßer Bau aus rohen, wenig behauenen Steinen – ganz eindeutig nicht die Nicht-Schänke von Leroy. Ein wenig weiter entfernt sah ich einige Gehöfte. Die meisten Bauten waren mit der Rückwand in eine Art Wall einbezogen - offenbar handelte es sich um ein hochländisches Nioch. Ein Abtritt und ein Brunnen waren nicht weit, ich benutzte erst den einen, dann den anderen, warf mir etwas Wasser ins Gesicht, wankte wieder zu meiner Schlafstatt und zog mich vollends an. Die blonden Haare waren nicht mehr da und ich war mir nicht sicher, ob ich sie mir nicht vielleicht eingebildet hatte. Ich packte die Tasche und verließ das Haus. Jenseits der Wiese lag der Anger und im dahinterliegenden Wall sah ich ein Tor, an dem Menschen standen und auf das ich zusteuerte. Ich war mir fast sicher, dass ich keine Seele kennen würde und fragte mich, ob ich noch in Luchnar, ob ich überhaupt noch in meiner Zeit war. Aber dann sah ich Lauren am Tor.

„Hast bei Ian gefrühstückt?“, fragte er. „Ich habe gar nicht gefrühstückt“, sagte ich. „Da war gar niemand in diesem Bau, wo ich geschlafen habe. Wo war das überhaupt?“

„Na, Ians Gästehaus. Wo Gäste eben schlafen. Früher wurden die ja immer bei einem von uns aufgenommen, aber seit die Aximistiliusstraße ausgebaut ist, schlafen Reisende in der Regel in diesem Gästehaus. Ist ja gleich ums Eck. Ihr seid doch irgendwann in diese Richtung verschwunden…“

„Sind… wir?“

Lauren sah mich an. „Ja… seid ihr. Nachdem wir lange über die offenen ostarischen Utzgan-Meisterschaften und die Luchnari und die MadRuadh-Attacke diskutiert haben und Du Dich dann wieder zu… sag mal, erinnerst Du Dich da überhaupt nicht mehr dran?“

„Nicht mehr so richtig“, gab ich zu.

„Co shey“, rief Lauren. „Mannomann. Wenn Du das nächste Mal nach Gwarras kommst, musst Du unbedingt wieder vorbeischauen. Aber halt Deine Sinne ein bisschen besser beisammen. Es lohnt sich.“


Leroy’s Nicht-Schänke (inoffiziell; kein offizieller Name)
Besitzer: Leroy MadRuadh
Einrichtung: Gemütlich, etwas rustikal
Preise: Günstig Publikum: Meist Einheimische, je nach Verkehr auf der A1 und Jahreszeit aber auch unterschiedlicher Anteil Reisender aus ganz Heligonia und Nachbarländern
Atmosphäre: Hochländisch-stimmungsvoll, gastfreundlich.
Übernachtung: Nein (aber benachbartes Gästehaus, Kontakt Ian Tulberlate MadRuadh)
Bewertung: Sehr empfehlenswert!

(Aus: Kleiner heligonischer Tavernenführer, Region Drachenhain, Sektion Luchnar. Einzige für Gwarras gelistete Taverne)

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