Ossiarische Schöpfungsgeschichte
OSS, RIIS, EIBO UND DIE ANDERE
In einer Zeit vor unserer Zeit, lebte das sich innig liebende Götterpaar OSS und RIIS. Ihre Existenz hatten sie allein einander geweiht und für dieses Sein in Liebe, begehrten sie bald einen geeigneten Ort. Also erdachten OSS und RIIS einen wunderbaren Garten, der licht und schattig, beruhigend und erquickend zugleich war.
Die Zeit ging dahin, und sie wünschten sich die Gesellschaft von Menschen, für deren Geschicke sie Sorge tragen konnten. Also schufen OSS und RIIS eine große Stadt um ihren Garten. Menschen siedelten sich freudig an, bezogen die Häuser und befuhren die Straßen, worauf noch mehr von ihnen kamen und letztlich die Stadt mit jedem Tag wuchs und gedieh‘.
Frohgemut beobachtete das HEILIGE GÖTTERPAAR das tägliche Tun der Menschen, griff ein, wo es nötig war und wies sie ein in Fischerei, Ackerbau und Handel. Denn ein großer See und fruchtbare Schollen begrenzten nun die hohen Mauern der Stadt. Hernach brachten sie ihren Schützlingen das Recht und das Spiel bei.
Die Menschen und die HOHEN verbrachten in diesen Tagen noch viel Zeit miteinander. Im Garten kam es regelmäßig zu freudigen Begegnungen bei Speis‘, Trank und aller Art Spiel. Mit Rat und Tat nahm das HEILIGE PAAR, an den Sorgen und Nöten der einfachen Menschen teil.
Aber weh, mit den Jahren trieb OSS und RIIS ungenannte Leere um, ließ sie bei Tage traurig seufzen und des Nachts unruhig wachen. Und so geschah es, dass der angrenzende See hochwogte und sich an die Mauern der Stadt warf. Schiffe nebst Menschen wurden in dunkle Tiefen verschlungen und Unwetter zerschlugen Frucht und Halm auf dem Feld.
Alsbald wandten sich die Menschen der Stadt an das HOHE PAAR und beteten um Beistand. Endlich erhörten OSS und RIIS ihre Bitte – welche auch die Ihre war – und legten sich zueinander. RIIS ward daraufhin schwanger und mit dem gesegneten Leib, flaute mit einem Mal der stürmische Wellengang ab und die Sonne schien mild auf die Felder herab.
So waren alle wieder heiter und zufrieden. Die Fluren um die Stadt herum trugen üppige Frucht und die See schäumte vor Fisch – mehr denn je zuvor. Auch OSS und RIIS waren nun voll froher Erwartung. OSS zimmerte eine Wiege und RIIS nähte ein Bettzeug dazu.
Am Tage der Niederkunft erfüllte erwartungsfrohes Raunen die Stadt, alle Leute freuten sich auf die Ankunft des Kindes. Und als endlich Säuglingsgreinen durch die Stadt hallte, da brachen Jubelrufe aus.
Doch dann ereignete sich das Unfassbare! Stille wurde es mit einem Mal, als plötzlich ein zweites, ebenso lautes, Säuglingsgeschrei zu vernehmen war. Da war die Wirrnis groß, denn seitens der HOHEN war doch nie von einem zweiten Kind die Rede gewesen?
Zweifel troff da in die Herzen der Menschen und Unglaube brach sich Bahn. Mancher schaute scheel hinüber zum Stadtgarten und frevelhafte Reden wisperten von Ohr zu Ohr, denn tatsächlich schenkte RIIS nach dem Jungen, ungeahnt einem gesunden Mädchen das Leben.
Das HOHE PAAR war indes ebenso verwirrt wie die Menschen und Sorge bereitete ihnen der wachsende Unglaube derer, denen sie unfehlbare Hoheit versprochen hatten. Schweren Herzens entschlossen sich OSS und RIIS, das „überzählige“ Kind fortzugeben.
Hernach wandten sie sich ganz dem Sohne, den sie EIBO nannten, zu und hoben ihn in ihren Rang. Die Tage wurden wieder glücklich. Die DREI HOHEN und die Menschen verständigten sich. Und Risse, die in das Mauerwerk der großen Stadt geraten waren, wurden ausgebessert, waren nur noch bei genauster Betrachtung zu erkennen.
Ein anstelliger Jüngling wurde EIBO und führte bald alle Aufgaben aus, die mit der See und den Fluren zusammenstanden, zum Frommen der Stadt und der Menschen darin. OSS und RIIS waren stolz auf ihren Sohn und die ANDERE, die überraschende Tochter, bald vergessen.
Dann aber zog eines Tages eine große Schar vor die Mauern der Stadt. Jene waren in erdfarbene Panzer gehüllt und trugen in ihren Fäusten schwarze Speere. Inmitten der Menge, schritt ihre Königin, die groß, jettglänzend und mächtig war.
Jene JETTGLÄNZENDE war es, die nun die DREI HOHEN anrief:
„Heda, Vater, Mutter und Bruder. Ich bin es, die AUSGELADENE, die FORTGEBRACHTE, die SPÄTGEBORENE. Und ich fordere Ausgleich!“
Mit dieser Rede ragten plötzlich die DREI HOHEN über den Mauerkronen auf, um zu hören und zu sehen, was sich hier zutrug. Hernach war zunächst ein umfassendes Schweigen, das an den Menschenleibern riss, ihnen den Atem nahm und sie an Ohren und Augen bluten ließ. Flehentlich blickten sie zu den DREI HOHEN, etwas musste geschehen:
OSS trat vor, seine Augen sendeten Blitze und donnernd war sein Ruf:
„Ausgleich kann niemals gefordert, sondern nur in Demut angeboten oder in Demut empfangen werden. Keines von beiden wirst Du hier erfahren, denn Du bist die AUSGELADENE, an OSS‘ Seite ist kein Platz für Dich!“
RIIS tat einen lautlosen Schritt und Silbertränen rannen über ihren weißen Hals:
„Oh Kind, Oh Du FORTGEBRACHTE, gehe dorthin zurück, wohin man Dich sandte. Nichts als ein Brandmark blieb von Dir in RIIS zurück, da ist nur leere Ödnis, oh Kind, für Ausgleich oder Zukunft kein Trieblein!“
EIBO groß und größer, griff fest nach den Brüstungszinnen, so dass Mauergrund erzitterte:
„SPÄTGEBORENE, Ausgleich ist Dein Begehr? Ausgeglichen ist die Lage jetzt, da Du nicht bei EIBO bist. Kämest Du obendrein würden weder Brot noch Fisch ausreichen und Hunger hieße Deine Beigabe, magst Du das verantworten? Höre, Du bist hier zu viel, SPÄTGEBORENE! Wahrlich, es reicht den Leib der Mutter mit Dir geteilt zu haben. Also scher‘ Dich fort und nähr‘ Dich an andrer Brust!“
Da senkte vor den Mauern der Stadt die AUSGESTOßENE ihren Blick und als sie wieder aufsah, waren ihre Augen wie von Salz; kristallen, weiß und scharf:
„Harte Worte, hart vorgebracht! Doch ich sehe nun klar: fern, öd und hungernd wäre mein Leben in Eurer Mitte. So kann man in der Tat nicht leben. Also wende ich mich ab und lasse Euch drei Geschenke zurück, die an mich erinnern sollen.“
Die SALZÄUGIGE, hieß die drei Gaben vor sich auf den Boden legen, bevor sie sich umwandte, fortging und nie mehr wiederkam.
Die DREI HOHEN verschmähten aber die Gaben und kehrten in den Schönen Garten zurück. Neugierig traten da die Menschen der Stadt hervor und besahen sich die Dinge. Die da im Einzelnen waren: für den Vater ein wunderbares Waffengehänge, ein prachtvolles Kleid für die Mutter und ein schlankes Segelboot für den Bruder.
Allzu schnell schrieben die Menschen den Gaben der UNDURCHSCHAUBAREN allerhand Wunderwirkung zu und auf Drängen ihrer Schützlinge gestatten die DREI HOHEN, die Dinge in den hintersten Winkel des Stadtgartens zu tragen und dort zu verstauen.
Da lagen sie nun Jahr um Jahr, und es waren die Menschen – allen voran die Weiber – die von den Gaben der BLENDERIN nicht lassen konnten. Zu gerne wollten sie von den Wundertaten wissen, die diese zu wirken im Stande waren.
Also traten die Weiber zu RIIS und schmeichelten ihr. Wenigstens einmal müsse sie doch das silberdurchwirkte Kleid tragen, es stehe ihr sicherlich wunderbar zu Gesicht und würde OSS‘ Liebe zu ihr ins Unermessliche wachsen lassen.
Lange Zeiten blieb RIIS standhaft und wehrte alles Drängen ab. Dann war sie der nörgelnden Bitten aber einmal müde und lenkte ein, das Kleid ein einziges Mal an ihren Leib zu halten. Hierbei, oh weh, stach Riis sich eine Nadel in den Busen, die im Kleid verborgen gewesen war, leblos sank sie nun zu Boden.
Entsetzt schrien die Frauen auf, rauften sich die Haare und zerrissen sich die Kleider. Sorgenvoll eilten OSS und EIBO heran und erschraken, RIIS so am Boden zu sehen:
Oss‘ Wut entflammte jäh und er wollte nach dem Wehrgehänge zu seinen Füßen greifen, um der GIFTSCHENKENDEN in Rache entgegen zu treten. Doch da fasste EIBO den Vater bei der Schulter und sprach:
„Was nutzt es, den Skorpion zu zertreten, dessen Giftdorn bereits gestochen? Siehe, RIIS ist nicht tot, ihre Brust hebt und senkt sich schwach. Lass EIBO in die Welt ziehen, oh Vater, um für die Mutter ein Gegenkraut zu finden und Du OSS, sei hier.“
Ungern stimmte OSS seinem Sohne zu, alsdann sprang EIBO in das schlanke Schiff, raffte tiefschwarze Segel und ließ sich von Winden in die Ferne tragen.
Weh, oh Weh! EIBOS schwarze Segel sollte im Leben und im Tod niemals jemand wiedersehen, denn er ward auf immer fort!
Und als RIIS bald darauf aus schwerem Traum erwachte, rief sie nach ihrem Sohn. Statt seiner kam aber OSS und unermesslicher Schmerz lag in seinem Blick. RIIS wusste sofort was geschehen war und stumm blieben fortan ihre Lippen, bis zum heutigen Tag.
Und so gingen OSS und RIIS in ihren schönen, leeren Garten und verschlossen erstmals die Zugangstür. Zuletzt wandte sich OSS noch einmal um und sprach:
„Dies Tor soll erst wieder geöffnet sein, da EIBO daran klopft. Denn fern, öd und hungernd ist alles ohne ihn!“
Die Jahre vergingen, ohne dass die Türe zum Schönen Garten je geöffnet worden wäre, und so schwand zuerst der See mit seinen Fischen und auch der gute Boden stieb bald als Staub über die trostlose Ebene um jene Stadt, die nun in aller Munde Ossiaris hieß.
Gängigste Variante der ossiarischen Schöpfungsgeschichte, aus altvorderer Zeit.
Dem Königreich Heligonia von der Stadt Ossiaris auf edlem Pergament beschrieben zum Geschenk gereicht, anläßlich der frohen Hochzeit der Tochterherrin Ildari mit dem Schwertführer Samuel von Turlach.